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Der Geruch der Freiheit

Im Gespräch mit Dr. Janis Kruse

Es war 2021: Lockdown in Deutschland, Italien und der ganzen Welt und ich reiste mit Gunnar Kaiser und einer Handvoll Leuten, deren Freiheitsdrang sich ebenso wenig unter Quarantäne setzen liess wie sie selbst, nach Umbrien. Dort suchten wir nach einem Refugium. Einem Ort, an dem wir das Leben leben könnten, das wir uns zu leben erträumten. Janis Kruse war damals schon eine «Freigeistin» und kontaktierte Gunnar, sich das zum Verkauf stehende Bergrefugium, in dem sie damals lebte, einmal anzusehen. Zum Kauf kam es nie. Dafür aber zu einer Freundschaft, deren «Zuflucht» ich wiederum nicht gesucht, sondern gefunden habe.

«DIE FREIEN»: Liebe Janis, du bist bereits 2018 nach Umbrien ausgewandert und bist seither selbstständig mit deiner eigenen Naturkosmetik. Hat dich Deutschland abgestossen oder Italien angezogen?

Janis Kruse: Damals vor sieben Jahren hat mich Deutschland keineswegs abgestossen. Es ging tatsächlich eine grosse Anziehungskraft von Italien aus. Das Klima, die abwechslungsreiche Natur, das Essen, die Architektur, Kunst und das südeuropäische Temperament haben mich fasziniert und eine Sehnsucht in mir geweckt. Natürlich ist die deutsch-italienische Beziehung auch eine besondere, ich denke dabei an die vielen deutschen Künstler und Schriftsteller, die in Italien Inspiration, Zuflucht und Wärme gefunden haben. Als ich nach meiner einjährigen Auszeit zurück in einen neuen Job nach Deutschland kehrte, hat mich Deutschland erschreckt. Und ab da fühlte ich mich auch abgestossen.

Würdest du sagen, dieser «Geruch der Freiheit» ist in den letzten vier Jahren verflogen?

JK: Das ist eine schöne Formulierung, da ich mich ja beruflich viel mit Düften beschäftige. Tatsächlich habe ich es genauso genannt, als ich nach meiner Wanderung endgültig Deutschland den Rücken kehrte: «Wenn man einmal den Geruch der Freiheit geschnuppert hat, kann man nicht mehr in der Enge der Sicherheit weiterleben.» Ich erinnere mich sehr genau daran, wie ich in Deutschland aus dem Laborfenster schaute, die Milane über der Stadt kreisen sah und dachte, wie völlig absurd unsere Lebensweise geworden war. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, alles zu hinterfragen, insbesondere die Welt der pharmazeutischen Wissenschaft, in der ich mein Geld verdiente. Ich konnte mit meiner Erkenntnis nicht mehr so weitermachen wie bisher.
Nun ist der Geruch der Freiheit nicht immer ein Duft, manchmal ist er auch ein schneidender Wind. Weder das eine noch das andere hat sich in den letzten Jahren verflüchtigt. Eine lange Zeit habe ich das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit als umgekehrt proportional empfunden und hatte das Gefühl, ich müsste ständig für das eine etwas von dem anderen aufgeben. Heute denke ich anders darüber und verstehe Freiheit als etwas, das in einem selbst ist. Diese Art von Freiheit sehnt sich dann auch nicht mehr so sehr nach Sicherheit. Aber das ist vermutlich eine Lebensaufgabe.

Welche Möglichkeiten siehst du – unter anderem für dich – in Italien, die du in Deutschland nicht siehst?

JK: Ich würde sagen, in Italien herrscht allgemein ein Wille zum Ungehorsam. Die Gesetze, Regeln und Bürokratie im Land sind extrem kompliziert und überladen mit unrealistischen Anforderungen, sodass die Bevölkerung von vornherein nicht daran glaubt, die Gesetze einhalten zu können. Zum Beispiel waren die Einschränkungen und Massnahmen der Regierung während der Corona-Zeit wesentlich härter als in Deutschland, aber die Einhaltung wurde hier eher als optional betrachtet. Wenn man keinen Green Pass hatte, um bei der Post einen Brief abzuschicken, wurde einem kurzerhand einer von dem Kunden hinter dir geliehen. Die Italiener halten vor dem Gesetz zusammen, anstatt sich gegenseitig zu denunzieren. Ich sehe das als eine grosse Chance für das Land, da die Bevölkerung für sich selber denkt und sorgt. Speziell in Umbrien führt die mangelnde Wirtschaftskraft wegen fehlender Industrie und minimalem Tourismus zu einem resilienten Netzwerk von Bauern. Eigentlich ist in Umbrien jeder mehr oder weniger ein Bauer. Ob Wein, Olivenöl, Getreide, Gemüse oder Fleisch, alles ist immer irgendwie in der Nachbarschaft vorhanden. Die Produkte werden dann in sogenannten lokalen Kaufgruppen legal, aber steuerfrei verkauft und getauscht. Das bedeutet natürlich enorme Stabilität für die regionale Bevölkerung.

Inwieweit ist es überhaupt möglich, das eigene Heimatland vollends hinter sich zu lassen? Und ist das überhaupt je deine Absicht gewesen?

JK: Ich war nun zwei Jahre nicht mehr in Deutschland und ich vermisse es nicht einen einzigen Tag. So gesehen habe ich meine Heimat wohl hinter mir gelassen. Was mir aber fehlt, ist die deutsche Seele. Die deutsche Art zu denken, zu philosophieren und sich tiefgehend mit Themen zu beschäftigen, ist den Deutschen sehr eigen. Ich würde sagen, dass ich das Deutsche erst gesehen und lieben gelernt habe, nachdem ich ausgewandert bin. Das ist für mich eine sehr wertvolle Erkenntnis und hat mir Deutschland als meine Heimat wieder nähergebracht.

Siehst du mitunter auch Probleme darin, aus «politischen» Gründen das eigene Land hinter sich zu lassen, um sich unter «einfacheren» Bedingungen woanders etwas aufzubauen? Inwieweit, würdest du sagen, ist das mehr Flucht, denn Suche?

JK: Das politische und gesellschaftliche Klima in Deutschland hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Ich finde, es ist legitim, in ein anderes Land zu flüchten, wenn man sich nicht mehr zu Hause und in seiner Entwicklung stark eingeschränkt fühlt. In ein fremdes Land auszuwandern ist allerdings nie einfach, auch wenn es anfangs eine Leichtigkeit mit sich bringt. Sich in eine andere Kultur, Sprache und Gesellschaft einzugliedern ist auf längere Sicht schon eine grosse Herausforderung, darüber muss man sich im Klaren sein. Bevor man tatsächlich das Land nur aus Flucht verlässt, sollte man gut abwägen, ob man den Kraftakt neu anzufangen, wirklich bewältigen kann und will. Ich würde sagen, anders als Flucht, ist Suche etwas, das aus einem inneren Bedürfnis entsteht. Das ist ein grosser Unterschied und beeinflusst die innere Einstellung, sich auf neue Dinge einzulassen. Sich auf die Suche zu machen, ist ein Akt der Selbstermächtigung, während die Flucht mehr oder weniger eine Fremdbestimmung ist. Wenn man die Flucht nicht auch gleichzeitig als Suche annimmt, ist die Gefahr vielleicht da, bei der nächsten Schwierigkeit wieder zu flüchten. Und so kann man sich natürlich nicht weiterentwickeln.

Was bedeutet es für dich, wahrhaft «anzukommen»?

JK: Eigentlich verwirrt mich der Begriff, denn ankommen ist so etwas wie das Ende einer Reise. Wenn man das Leben als eine Reise empfindet, ist Ankommen der Tod. Wir wollen immer irgendwo ankommen, in den Hafen, die Sicherheit. Aber es geht ja immer weiter, neue Herausforderungen, neue Wege, neue Ziele. Ankommen ist für mich eine Sehnsuchtsidee, aber kein Lebensinhalt.

***

Janis Kruse studierte Biologie, promovierte in Molekularbiologie und Biochemie. Nach zwei Jahren im Wissenschaftsbetrieb musste sich etwas in ihr auf die Suche machen. 2016 schnürte die Stiefel und lief 1600 Kilometer von Darmstadt nach Genua, wo sie keine Antwort fand, aber eine Fähre nach Sardinien und dort einen Kontakt nach Umbrien, wo sie heute lebt.


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