
Der falsche Name
Manchmal, wenn jemand mir seinen Namen sagt, fällt mir nichts dazu ein. Aber manchmal muss ich sofort an sie denken. Sie wohnte in unserem Dorf, und jeder, der ihr begegnete, wurde sogleich auf sie aufmerksam. Sie hatte langes, verfilztes, lose zusammengebundenes Haar, trug Pluderhosen und lange Röcke in verwaschenen Farben, Ohrgehänge vom Flohmarkt und klirrende Reifen an beiden Armen. Sie rauchte immer nur Selbstgedrehte, lief im Sommer stets barfuss, hatte ein Kind mit geflickten Hosen und einen Hund, den sie nie an die Leine nahm. Er streunte durch die Strassen wie sie, und wenn er zu sehr zurückblieb, rief sie ihn mit gellender Stimme zu sich.
«Django», rief sie, «schmöcksch es Wiibli?»
Dazu lachte sie laut. Und wenn der Hund es nicht nötig fand, zu gehorchen, pfiff sie ihm durch die Finger wie die italienischen Bauarbeiter in meiner Kindheit. Es kratzte sie nicht, was die Leute über sie dachten. Und die Leute machten sich über sie viele Gedanken. Sie war ein Mensch, über den man einfach nachdenken musste.
Ich erinnere mich, dass ich sie das erstemal sah, als ihr Sohn in die erste Klasse kam. Da erschien sie am Elternmorgen. Die Stunde hatte bereits begonnen, sie stand in der offenen Tür und wir, die anderen Eltern, schauten sie an und staunten, dass auch sie eine Mutter war. Ihren Hund hatte sie nicht dabei, aber wäre er mitgekommen, hätte sich niemand darüber gewundert. Django gehörte zum Bild, das wir alle von ihr besassen.
Weil es in der Nähe des Eingangs keine freien Stühle mehr gab, setzte sie sich kurzerhand auf den Boden. Die Lehrerin anerbot sich, ihr einen Stuhl zu beschaffen, doch die ungehörige junge Mutter blieb im Schneidersitz auf dem Boden sitzen und meinte: «Ist gemütlicher so!» Sie tat einen Blick in die Runde und lachte, als wären wir ihre Kumpels. Dann entdeckte sie ihren Sohn und winkte ihm freudig zu. Immer wieder winkte sie ihm, ohne sich darum zu kümmern, dass die Lehrerin gerade etwas erklärte.
Wer der Vater des Kindes war, wusste niemand so recht. Manchmal war sie mit einem Mann unterwegs. Aber manchmal auch mit einem anderen Mann.
So verging die Zeit. Jedesmal, wenn ich sie sah, bestätigte sich mein Bild von ihr. Wir nannten sie nur die Streunerin. Wovon sie lebte, wussten wir auch nicht. Ich hätte es gern erfahren, doch irgendwie ergab es sich nie, dass ich mit ihr ins Gespräch kam, obwohl ich jedesmal dachte: Das nächste Mal sprichst du sie an. Sie beschäftigte mich, weil sie die Sitten in unserem Dorf so unbekümmert missachtete. Sie war eine echte Rebellin, so kam sie mir vor. Sie lebte ihr Freisein. Ohne dass sie es wusste.
Dann, eines Tages im Nachbardorf, stand ich unversehens vor ihr. In einem Laden, der in einer leeren Fabrikhalle Restposten anbot, war sie mit dem Einräumen neuer Ware beschäftigt. Jetzt wusste ich endlich auch, wie sie ihr Geld verdiente. Von der Hand in den Mund. Ich ergriff die Gelegenheit und sprach sie an.
«Ich glaube», begann ich, «wir wohnen im gleichen Dorf!»
«Aber sicher!» erwiderte sie, und ihre Augen funkelten fröhlich. Also war ich ihr aufgefallen. Offenbar fand sie auch mich nicht ganz so normal wie die Andern. Ich fühlte mich seltsam geehrt.
Während sie weiter am Einräumen war, tauschten wir ein paar Worte aus. Ich sagte ihr Du, das war für mich keine Frage. Sie zu siezen wäre mir unmöglich gewesen, und natürlich sagte sie ebenfalls Du, so wie sie wahrscheinlich alle duzte, die ihr über den Weg liefen. Die Streunerin schien keine Höflichkeitsformen zu kennen. Sie war wie ein unerzogenes grosses Kind, doch alle verziehen ihr. Weil alle sich danach sehnen, unerzogen zu sein.
Zuletzt, bevor die Zeit mich zum Weitergehen drängte, nannte ich ihr meinen Namen.
«Und wie heisst du?» fragte ich.
«Béatrice», erwiderte sie.
«Béatrice?» wiederholte ich überrascht. Sie hatte nicht etwa ‹Bea› gesagt. Sondern Béatrice. Mit einem é.
In diesem Moment wandte sich ein älterer Kunde an sie, der etwas suchte, das er nicht fand. Hilfsbereit ging sie mit ihm. Sie grinste mir zu, bevor sie verschwand, während ich mich zur Kasse begab, den Laden danach verliess – und noch immer nicht glauben konnte, dass die Hippiefrau mit den langen, verfilzten, lose zusammengebundenen Haaren, die den ganzen Sommer lang barfuss lief, jedermann duzte, ihr Kind mit löchrigen Hosen zur Schule schickte, am Elternmorgen im Schneidersitz auf dem Boden sass und ihren Hund nie an die Leine nahm – dass diese Frau wirklich Béatrice hiess. Béatrice mit dem französischen é.
Kann es sein, fragte ich mich, dass der Name, den ein Mensch bei seiner Geburt erhält, nicht der richtige ist?
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