
Beziehung statt Erziehung
Erziehung ist nicht die Lösung, sondern das Problem
Kürzlich kam mein Sohn nach Hause und meinte lachend: «Du, Mama, bei der Arbeit heute hat mir ein Kollege etwas gesagt, das ich dir unbedingt ausrichten soll.» Neugierig sah ich ihn an. «Er sagte, du hättest mich aussergewöhnlich gut erzogen! So zuverlässige, zuvorkommende und hilfsbereite junge Leute wie mich treffe er nur noch äusserst selten.»
Schmunzelnd sah ich zu ihm rüber. «Wenn dein Kollege wüsste, dass du gar nicht erzogen wurdest!» Wir beide mussten lachen.
Es heisst, Erziehung sei notwendig, um einem Kind Werte wie Respekt, Rücksicht, Geduld, Toleranz oder Verständnis zu vermitteln. Doch wenn wir uns viele klassische Erziehungsmethoden genauer anschauen, wird klar: Im Kern geht es darum, das Verhalten des Kindes mit verschiedensten Machtmitteln zu beeinflussen. Strafen, Drohungen, Erpressungen, aber auch Lob oder Belohnungen dienen dazu, das Kind in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dabei vermittelt die Botschaft an das Kind unbewusst: «Du bist nicht gut genug, so wie du bist.»
Wie der dänische Familientherapeut Jesper Juul betont, brauchen Kinder keine Erziehung im klassischen Sinne, sondern tragfähige, gleichwürdige Beziehungen zu ihren Eltern. Erziehung, die auf Gehorsam abzielt, zerstört diese Beziehung, während eine respektvolle Begleitung Kinder in ihrer Selbstständigkeit stärkt.
Kinder lernen schnell, dass ihre Meinung und Bedürfnisse weniger zählen als die der Erwachsenen. Sie gewöhnen sich daran, ihre wahren Gefühle zu unterdrücken, um Erwartungen zu erfüllen. Und wenn sie sich wehren – durch Trotz oder Rückzug – verstärken viele Eltern ihre erzieherischen Massnahmen in der Hoffnung, ihr Kind werde endlich «normal» funktionieren. Ein destruktiver Kreislauf beginnt.
Ja, Erziehung verwandelt das Zuhause in eine Art Kampfplatz, anstatt dass es ein entspannter Ort des gegenseitigen Vertrauens, tiefer Geborgenheit und echter Kooperation ist.
Eltern wünschen sich, ihr Kind werde ein glücklicher, ausgeglichener, selbstständiger, selbstbewusster, freundlicher, rücksichtsvoller, liebevoller und verantwortungsbewusster Mensch. Doch paradoxerweise führt Erziehung gerade zum Gegenteil. Statt Selbstständigkeit zu fördern, trainiert sie Gehorsam. Statt kritischem Denken entsteht Angepasstheit. Statt dass das Kind Freiheit erlebt, wird es durch Kontrolle reguliert.
Doch Kinder lernen nicht durch Erziehung, sondern durch Vorbilder und eigene Erfahrungen. Sie sind von Geburt an soziale Wesen und wollen kooperieren. Damit sie dies frei und mit Freude tun können, brauchen sie keine manipulativen Massnahmen, sondern eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren Eltern.
Es ist ganz einfach: Ein Kind, das mit Respekt behandelt wird, lernt Respekt. Ein Kind, das Liebe erfährt, gibt Liebe weiter. Ein Kind, dem Verständnis entgegengebracht wird, entwickelt Verständnis für andere.
Gleichzeitig bedeutet ein respektvoller Umgang nicht, dass alles erlaubt ist oder ein Laissez-faire-Ansatz zielführend wäre. Ein bewusstes, sinnvolles Grenzen setzen ist erlaubt – dort, wo sie wirklich notwendig sind. Gerade weil ein Nein nicht willkürlich ist, sondern aus Fürsorge kommt, bleibt es bedeutsam und wird ernst genommen.
Kinder brauchen keine Erziehung. Sie brauchen Beziehung. Die Frage ist nicht, wie wir sie am besten formen, sondern wie wir ihnen einen Raum geben, in dem sie sich zu jenem Menschen entwickeln und entfalten können, der sie von Natur aus sind.
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Doris Gantenbein ist Dreifach-Mama, Unschooling-Pionierin, Autorin, Gründerin von Elternkunst, Ausbildnerin und Mentorin.
elternkunst.ch
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