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Wo kämen wir hin, wenn wir alle frei wären?

Wählen, was man will, ist Willkür. Das Gegenteil von Willkür ist Freiheit. Willkür bringt Chaos; Freiheit schafft Ordnung. Im Umkehrschluss schafft Ordnung nicht Freiheit. Ist die Ordnung willkürlich, führt sie ins Chaos. Eine linguistisch-philosophische Gegenüberstellung der Begriffe Freiheit und Willkür.

«Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu schauen, wo wir hinkämen, wenn wir gingen.» Diesen Satz des Schweizer Pfarrers und Lyrikers Kurt Marti kritzelten wir Gymnasiasten in den 1980ern mit Edding auf jede zweite Plakatwand, alternierend zum Satz «Es ist verboten, toten Kojoten am Boden die Hoden zu verknoten», der zwar lyrischer, aber dafür weniger sinnstiftend ist, und dessen Urheberschaft sich nicht mehr eruieren lässt. Der Edding gehörte zur Standardausrüstung der freiheitsliebenden Jugend. Er war Symbol und Ausdruck von Freiheit zugleich. Den Edding in der Tasche, fuhren wir mit dem Fahrrad trotz Fahrverbot an den von uns bekritzelten Plakatwänden vorbei durch die Bahnhofsunterführung und verschreckten damit in Gedanken versunkene Bahnreisende. Einmal steckte ein erschrockener Pensionär meinem Klassenkameraden kurzerhand den Spazierstock zwischen die Speichen des Vorderrads, worauf der Klassenkamerad in hohem Bogen durch die Bahnhofsunterführung flog. Die Frage, ob sich jemand die Freiheit nehmen dürfe, unserer Freiheit auf diese gewaltsame Weise ein Ende zu setzen, beschäftigte uns noch lange. Dabei hatte das alles gar nichts mit Freiheit zu tun. Hier hatte sich nicht jemand die Freiheit genommen, uns die Freiheit zu nehmen, sondern er hatte lediglich unserer Willkür willkürlich ein Ende gesetzt.

Freiheit und Willkür sind Gegensätze

Freiheit bedeutet Selbstbeherrschung. Wer sich selbst nicht beherrschen kann, ist unfrei, auch wenn er nicht fremdbeherrscht wird. Das heisst, auch die Selbstbeherrschung kann keine Willkürherrschaft sein. Freiheit hat offensichtlich etwas mit Ordnung zu tun. Das Gegenteil von Ordnung ist Chaos. Im Chaos herrscht Willkür.

Bei vielen Menschen steht die Freiheit in schlechtem Ruf. Sie fürchten geradezu die Freiheit. Vor allem fürchten sie die Freiheit der anderen. Dies tun sie natürlich völlig zu Unrecht, denn ihre Angst entspringt einem fatalen Missverständnis, welches hier ausgeräumt werden soll. Diese Menschen verwechseln Freiheit mit Willkür.

Bei der Frage nach der Freiheit handelt es sich um eine philosophische Frage, und eine solche verlangt nach einer philosophischen Antwort. Die Philosophie ist nach Platon die höchste Wissenschaft. Sie baut auf Mathematik und ragt über diese hinaus, indem sie hinter der Ordnung den Sinn erkennt. Hierzu verbindet sie Logik mit Linguistik.

Vorbehalt der Freiheitsskeptiker

Der Vorbehalt «Wo kämen wir hin, wenn jeder täte, was er will?» wird gerne von Freiheitsskeptikern gegen die Freiheit in Stellung gebracht. «Wo kämen wir hin, wenn jeder nach eigenem Gutdünken handelte, ohne Rücksicht auf andere?» Diese Definition steht so wörtlich im Duden: Handeln nach eigenem Gutdünken ohne Rücksicht auf andere. Es ist allerdings nicht die Definition von Freiheit, sondern die Definition von Willkür. Der Begriff Willkür setzt sich zusammen aus Wille und Kür. Das mittelhochdeutsche Wort Kür bedeutet Wahl. Und Wille geht auf die indogermanische Wortwurzel *uel– zurück, die ebenfalls wollen/wählen bedeutet. Willkür bedeutet also wählen, was man will. Diese Überhöhung des Wollens steht für rücksichtslosen Egoismus und lässt uns zu Recht um die Freiheit bangen. Die Willkür des einen bedroht die Freiheit des anderen. Freiheit muss bedeuten, nicht der Willkür anderer ausgesetzt zu sein. Freiheit heisst Absenz von Willkür. Freiheit scheint das Gegenteil von Willkür zu sein.

Die interessante Frage lautet also: «Wo kämen wir hin, wenn alle frei wären von Willkür?» 

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Andreas Thiel ist Philosoph und Filmproduzent. Seit 2018 tourt er mit seiner Vortragsreihe «Liebe, Logik und Linguistik» in der Schweiz: andreasthiel.ch 

Sein erster Film «Kalbermatten» kam im Januar 2025 in die Schweizer Kinos: kalbermattenfilm.ch 


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