Vom Überwinden der erlernten Hilflosigkeit
Die meisten von uns leben in einem Gefängnis. Einem Gefängnis, dessen Gitter sie in allen Bereichen mit zunehmendem Alter immer heftiger spüren, nie aber überwinden können. Es gelingt ihnen einfach nicht.
Die meisten von uns scheitern beim Versuch, den Zwängen, die von aussen vorgegeben werden, zu entkommen. Sie scheitern immer und immer wieder, bis sie eines Tages beschliessen aufzugeben, sich der Gefängnisordnung zu beugen, oder aber auf einen Menschen zu warten, der sie bei der Flucht anführt. Einem Menschen also, der ihnen den fertigen Plan zum Ausbruch vorlegt, sie dann bei der Hand nimmt und in die Freiheit führt.
Die meisten von uns warten ihr Leben lang auf diesen Befreier, doch selbst wenn er kommt und sie beschliessen, dieser Person freiwillig zu folgen, fühlt sich der Ort, an dem sie sich später wiederfinden, alles andere als frei an. Im Gegenteil: Sie finden sich im besten Fall in einer anderen Haftanstalt wieder, meistens wechseln sie aber nur die Zelle innerhalb bekannter Mauern.
So oder so kann für die meisten von uns von einem Ausbruch in die ersehnte Freiheit keine Rede sein. Die meisten von uns enden nach unzähligen gescheiterten Fluchtversuchen in der Resignation, die mittels Dauerkonsum und permanenter Selbstoptimierung den Gefängnishof wie einen Spielplatz mit unendlichen Möglichkeiten wirken lässt. Doch diese Täuschung kann nur aufrechterhalten werden, wenn wir, die Gefangenen, bereit sind, immer mehr Energie in diesen Selbstbetrug zu investieren.
Ein Gefängnis bleibt ein Gefängnis, ganz egal, wie bunt die Farben sind, mit denen wir die Gitterstäbe anmalen dürfen. Und jetzt die gute Nachricht. Es gibt Hoffnung, denn Freiheit existiert. Was nicht existiert, ist die Möglichkeit, echte Freiheit wie eine Dose Cola zu konsumieren.
Freiheit gibt es nicht in Dosen. Freiheit lebt. Sie ist überall und kann von jedem Punkt, zu jeder Zeit erreicht werden. Nötig ist dabei nur eine Überdosis Zuversicht und Mumm. Zuversicht in die Tatsache, dass wir alle frei geboren wurden, auch wenn die meisten von uns sich daran nicht mehr erinnern können. Und Mumm, der in jedem von uns vorhanden ist, aber seine Wirkung nur entfalten kann, wenn wir aufhören zu glauben, Dritte hätten den Schlüssel zu unserer Gefängniszelle. Das ist nicht der Fall.
Wir selber sind im Besitz dieses Schlüssels. Die Macht der gelebten Haftanstalt besteht vor allem darin, uns von dieser Tatsache abzulenken. Die meisten von uns können sich nur an die verschlossene Zelle erinnern, nicht aber an den Moment, als wir sie selber von innen zugeschlossen haben, auf Geheiss von aussen. Wir haben uns selber eingesperrt, und nur wir sind in der Lage, unsere Zelle von innen zu öffnen …
von Kayvan Soufi-Siavash
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Kayvan Soufi-Siavash ist Reporter seit 1986, erst beim Privatradio sowie bei ZDF, ARD, Pro7 und Deutsche Welle. Seit 2011 mit KenFM aktiv, aus dem 2021 apolut.net wurde. In seinem neuen Solo-Projekt soufisticated.net geht es weniger um Politik, als um das, was das Leben wirklich ausmacht – menschliche Begegnung.
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