Meine Mutter, die Wutbürgerin

München 2020/2021: Coronazeit. Markus-Söder-Land. Massnahmenwahnsinn. Kein Spass das. Eine Frau im fortgeschrittenen Alter betritt das Tram, die Maske einen Spaltbreit unter der Nasenspitze. Sie erntet böse Blicke. Das reicht ihr schon, um loszulegen. Sie reisst sich die Maske vom Gesicht und schleudert Jung und Alt die Wahrheit ins vermummte Angesicht. Schonungslos, ungeschminkt. Impfung, Test, Propaganda: alles Lug und Trug! Das ganze Programm. Sie argumentiert scharf, brillant. Das kann sie. Niemand reagiert. Die Frau ist meine Mutter. Sie ist Wutbürgerin der ersten Stunde. War sie immer schon.

1943 in Berlin geboren. Ihr Wiegenlied ist der Bombenterror. In den letzten Tagen des Krieges, so wurde von den Verwandten berichtet, sang sie – ein knapp zweijähriges Kind – im Luftschutzbunker fröhliche Lieder, um den Menschen die Angst zu nehmen, lebendigen Leibes begraben zu werden. Meine Mutter sagt, dass sie keine Angst vor den Bomben hatte und in ihrer kindlichen Seele spürte, dass die Menschen Trost und Ablenkung brauchten. Dass sie heitere Kinderlieder sang, während die Bomben fielen, glaube ich ihr. Dass sie keine Angst vor den Bomben hatte, hingegen nicht.

Das Schlimmste, sagt sie, seien das betretene Schweigen und die gesenkten Blicke. Noch nie habe es jemand – jung oder altim Tram gewagt, aufzustehen und Widerrede zu halten. «So wie damals. So ist der Mensch. Willige Lämmer, die schweigend in ihr Verderben laufen. So wie damals unter Hitler. So ist es immer schon gewesen. Und jetzt wieder.»

Nach dem Krieg, zur Stunde null, schlich sich meine Mutter – jetzt ein junges Mädchen – gegen das ausdrückliche Verbot ihrer Pflegetanten regelmässig zum Bahnhof Zoo, wo die russischen Kriegsgefangenen heimkehrten. Sie kletterte auf einen Mast, damit man sie sehen könne und streckte das winzige Passfoto – das Einzige, was sie vom Vater besass – den aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Soldaten entgegen. Der Vater war nicht dabei. Wenn sie heimkam, wurde sie verprügelt. Um der Prügel zu entgehen, flüchtete sie ins Badezimmer und schloss sich dort stundenlang ein, bis sich die Wogen gelegt hatten. Dort sass sie, ein verlassenes kleines Mädchen in seiner Einsamkeit und umarmte den Wasserboiler, das Einzige im kalten, traurigen Nachkriegsberlin, das ihr etwas Wärme zu schenken vermochte. Am nächsten Tag stahl sie sich wieder zum Bahnhof. Die zu erwartenden Prügel konnten sie nicht davon abhalten.

von Oliver Hepp


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