Widerstand als Weg des spirituellen Erwachens
Interview mit Mary Bauermeister (1934 – 2023).
Das schöpferische Potenzial von Kunst ist scheinbar grenzenlos. Aber wie können wir es nutzen, um die Krise der Wahrheitsfindung zu überwinden? Wir sprachen mit der Avantgardekünstlerin Mary Bauermeister über die konstruktiven Kräfte unserer destruktiven Zeit.
Im November 2021, nachdem wir auf unserer Fahrt durch Deutschland quasi obdachlos geworden sind. Kein Hotel und kein Airbnb wollte uns ohne Zertifikat beherbergen. Ein Freund vermittelte uns an das Haus der damals bereits 87-jährigen Künstlerin Mary Bauermeister. Sie selbst war an dem Abend gar nicht zugegen. Ihr wurde der Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen verliehen. Am Tag darauf entstand ein Gespräch über die Kräfte unserer Zeit, das Milosz und mich bis heute prägt.
Milosz Matuschek: Liebe Mary Bauermeister, wir leben in einer Zeit, in der es viele Diskussionen gibt über Pflichten, Abstandsgebote …, also was man alles nicht darf. Was kann die Kunst in so einer Zeit machen?
Mary Bauermeister: Zur Freiheit aufrufen. Kunst ist eigentlich eine freie Tätigkeit. Sie dient niemandem. Wenn Kunst irgendeinem anderen dient ausser dem Geist, aus dem sie entsteht – inspirativ –, dann ist sie schon korrupt.
Wo ist die Widerstandskunst? Wo ist die kritische Kunst? Man sieht wenige Künstler, die sich mit dem Thema der Krise auseinandersetzen.
MB: Ja, das war sehr viel intensiver in der Nachkriegszeit. Wir hatten die entartete Kunst, wir hatten das Verbot von Kunst. Und da gab es natürlich den Widerstand unserer ganzen Generation, die den Krieg miterlebt hat, dass wir keinem Erwachsenen überhaupt mehr geglaubt haben, auch keinem Dogma, auch keiner kirchlichen Moral. Das war ja das ganze ’68. Wir haben alles infrage gestellt, weil das Desaster von zwei Weltkriegen und dann die Wiederaufrüstung eigentlich immer mehr Empörung gebracht hat. Da wurde es verpflichtend für die Kunst, in den Widerstand zu gehen. Das heisst, sich zu wehren. Und du kannst dich nur gegen etwas wehren, was dir bewusst wird. Was unterbewusst abläuft, dem sind wir alle ausgeliefert.
Es ist immer so eine Sache: Wie wirst du dir bewusst, über die nächste Stufe hinaus, welchen Ungeistern du dienst? Das ist ein spirituelles Aufwachen. Und da sehe ich in der Kunst die Möglichkeit, sich nur dem verantwortlich zu fühlen, was aus der geistigen Welt inspirativ in mich hineinkommt. Die moralische Fähigkeit der Unterscheidung lernen, denn auch ich habe lange nicht unterscheiden können. Ich habe nicht an das Böse geglaubt. Bis ich erfahren habe, es gibt das Böse als Element, nicht als Sieger des Kampfes, sondern als…
von Lilly Gebert und Milosz Matuschek
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Mary Bauermeisters Kölner Atelier der 1960er-Jahre wird bis heute als Keimzelle der späteren Fluxus-Bewegung angesehen, einer Bewegung unter Künstlern gegen elitäre Hochkunst als Versuch, neue kollektive Lebensformen zu schaffen. Bauermeisters spätere Verbindung zur Geomantie, einer Art des Erd-Hellsehens, veranlasste sie dazu, weltweit für öffentliche wie private Auftraggeber Gärten anzulegen. Sie starb am 02. März 2023 im Alter von 88 Jahren.
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