
Wenn der Sturm sich legt
Zwei Jahre ist es her, seit ich mit einem Weinglas bewaffnet mein Slam Poetry-Stück «Vergeben» in eine Kamera rezitierte. In dem Text, den ich in meiner Küche vortrug, ging es um meine Auseinandersetzung mit einer Welt, die allzu leicht bereit gewesen war, eine ungeimpfte Minderheit zu diskreditieren und um die Frage, ob wir als Gesellschaft jemals wieder zusammenfinden könnten.
Was ursprünglich als kleiner Gastbeitrag für eine TTV-Sendung gedacht war, entwickelte in den Tagen nach seiner Veröffentlichung eine überraschende Eigendynamik und wurde weitläufig geteilt, gefeiert und – natürlich – gehasst. Letzteres so inbrünstig, dass ich mir beim Scrollen durch die Kommentarspalten manchmal erstaunt die Augen reiben musste. Zwar war ich zu dem Zeitpunkt bereits an Shitstorms gewöhnt, erlebte nun aber zum ersten Mal dieses rhetorische Ablenkungsmanöver, welches ich schon oft beobachtet, aber noch nie am eigenen virtuellen Leib erfahren hatte:
Anstatt sich auf die Botschaft meiner Worte zu konzentrieren, stürzten sich die Kritiker auf meine menschlichen Unzulänglichkeiten, beispielsweise auf die unverzeihliche Tatsache, dass ich während meiner Darbietung mit meinem (wie ich betonen möchte: vollauf bekleideten) Hintern auf dem Küchentisch sass – scheinbar ein schwerer Verstoss gegen die Etikette. Auch dass ich es wagte, vor Publikum Rotwein zu trinken, sorgte für Schnappatmung, was durchaus interessant ist, wenn man bedenkt, dass es gleichzeitig völlig in Ordnung war, wenn sich Starpromis vor aller Augen eine experimentelle Gen-Grütze in die Arme spritzen liessen. Ach ja, und ich hielt mein Weinglas «falsch». Damit trat ich wohl einigen auf den Schlips.
Kurz: Ich war eine verwahrloste, unzurechnungsfähige Alkoholikerin, deren Worte man keine Beachtung schenken sollte, wenn man selber Stil und Klasse besass.
Wenn ich heute zurückblicke, kann ich sagen, dass dieses Video mein Leben zuerst schmerzlich und dann zum Guten verändert hat.
Vor der Corona-Zeit war ich eine relativ unbedeutende Singer-Songwriterin, die eine kleine, alternative Nische bediente.
Dann wurde ich zur «Schwurbel-Sängerin», in den Augen der meisten lächerlich, aber noch immer harmlos.
Aber nach diesem Video war ich alles, was in unserer Kulturszene nicht gern gesehen wird: Eine Künstlerin, die anderen auf die Füsse tritt. Eine Künstlerin, die keinen Safe Space für unliebsame Gefühle aufspannt. Eine Künstlerin, die sich erlaubt hat, ungemütlich zu sein.
Während mein Soloprojekt Yoki in der Freiheitsbewegung geliebt wurde, schien meine Band Alva Lün in der etablierten Musikszene erst mal geliefert zu sein. Hatten wir vorher immer mit freundlicher Kommunikation und Respekt seitens der Veranstalter rechnen können, wurde es nun … still. Gespenstisch still.
Unsere Bewerbungen wurden entweder komplett ignoriert oder plötzlich wieder fallen gelassen. Lediglich ein einziger Veranstalter besass den Anstand, sich zu erklären, nachdem er beschlossen hatte, uns wieder aus seinem Line-up zu streichen. Ich zitiere aus seiner E-Mail: «Ich habe mich etwas intensiver mit deiner Musik und deinen Texten auseinandergesetzt und bin zum Schluss gekommen, dass dies für uns doch nicht passt.» Als ich nachfragte, gab er zu, dass er Angst habe, sein Stammpublikum zu verärgern, wo ich doch «Kontakt zu Gassner» hätte. Mit «Gassner» meinte er übrigens Daniele Ganser. Erstaunlich, oder? So intensiv hatte er sich mit dessen Arbeit beschäftigt, dass er sich nicht mal an seinen Namen erinnern konnte.
Da es mir schwer fiel, schlechte Recherche als Legitimierung für unseren Ausschluss gelten zu lassen, hakte ich nach und es entwickelte sich ein ehrlicher Austausch, an dessen Ende sich besagter Veranstalter sogar entschuldigte und zugab, dass «man Google vielleicht doch nicht trauen» sollte.
Erneut eingeladen hat er uns trotzdem nicht.
Dafür buchte er einen Musiker, der – wie ich wusste – ebenfalls massnahmenkritisch war, sich jedoch nie öffentlich dazu geäussert hatte.
Als ich das sah, wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
An dieser Stelle möchte ich den Scheinwerfer wegdrehen von all den seltsamen Dingen, die in einer von Cancel Culture verzerrten Kulturszene mittlerweile an der Tagesordnung sind und ihn für eine Weile nach innen richten. Denn der Prozess, der durch die ganze Sache angestossen wurde, ist für mich der zentrale Aspekt dieser Geschichte.
Ich würde gerne behaupten, dass ich von Anfang an mit einem coolen Schulterzucken auf all das reagiert habe, ganz nach dem Motto: «Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.» Leider muss ich zugeben: Es machte mir schwer zu schaffen. Ich fühlte mich beschmutzt, schuldig und elend, und das ungute Gefühl, verstossen worden zu sein, begleitete mich wie ein Hund, der sich an meinem Hosenbein festgebissen hatte und sich einfach nicht mehr abschütteln liess. Die Stimmung in der Band sank, der finanzielle Druck stieg, die Kreativität versiegte. Und als ich schliesslich weder ein noch aus wusste, verkroch ich mich zu Hause und liess den Orkan kommen.
Über Wochen brauste er über mich hinweg, schüttelte mich durch und zersprengte alle Rollen, die ich mir über die letzten Jahrzehnte angeeignet hatte. Ich wollte keine Musikerin mehr sein. Ich wollte überhaupt keine Künstlerin mehr sein. Ich weigerte mich, zu schreiben, zu komponieren, zu singen, auch nur eine Gitarre in die Hand zu nehmen. Ich durchwanderte ein inneres Tal, eine Ödnis, in der es finster und einsam war, und streifte mich dabei selbst Schicht für Schicht ab.
Ich war nicht mehr Mensch. Ich war nicht mehr Ich.
Ich war ein leeres, unbeschriebenes Blatt.
Und ich übergab mich dem Feuer.
Irgendwann, inmitten der verbrannten Erde, begann etwas Zartes zu wachsen. Vertrauen. Eine vage Ahnung, wie es sein würde, wenn alles in meinem Leben durch natürliche Schwerkraft an seinen Platz fiele.
Aber noch war es nicht soweit.
Als Wochen später der Sturm endlich abflaute und ich aus meiner Katharsis auftauchte, war die Welt noch immer dieselbe. Aber ich hatte mich verändert. Da stand ich, mit Ascheflocken im Haar, und schüttelte mein neues Gefieder.
Als ich mich zum ersten Mal ans Klavier setzte und mit Klängen und Worten improvisierte, fühlte ich mich wie ein Kind. Meine Kunst lag frei und unschuldig vor mir wie unberührter Schnee und ich wollte damit spielen, ohne dass mir jemand zuhörte.
Das tat ich. Und während ich spielte, konnte ich mir endlich selber vergeben. Nicht, weil ich etwas falsch gemacht hätte, indem ich damals, vor zwei Jahren, diese Worte in die Kamera sprach. Sondern weil ich mich und meine Kunst verlassen hatte, um dem Schmerz der Ausgrenzung zu entkommen.
In dieser Zeit lernte ich, dass Selbstachtung alles ist. Wenn das, was wir sind und erschaffen, ins Scheinwerferlicht gezerrt und bewertet wird, ist die Selbstachtung die stille Wächterin, die uns Trost und Schatten spendet.
Dank ihr kann unsere Kunst überall erblühen – auch auf dem geistigen Schlachtfeld einer Welt, die im Wandel begriffen ist.
***
Andrea Pfeifer ist freischaffende Musikerin und Wortkünstlerin.
yokidoki.ch
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