Mitläufer sind solidarisch
Die Solidarischen werden stets dazu aufgerufen, die Unsolidarischen zu bekämpfen. Es ist mir kein Fall bekannt, in welchem Solidarität mit Unsolidarischen propagiert worden wäre. Damit steht die Solidarität im krassen Gegensatz zur Liebe, die selbst Feinden gilt.
Es gibt in der Geschichte der Menschheit zwei Grundmuster. Nennen wir sie Philosophien und Ideologien. Philosophien sprechen das Individuum an. Ideologien richten sich ans Kollektiv. Einer Philosophie kann jeder individuell folgen, wohingegen die Ideologie eine Gefolgschaft aller bedingt. Die individualistische Philosophie steht hier also der kollektivistischen Ideologie gegenüber.
Philosophien, wie wir sie unter anderem von Jesus, Buddha oder Zarathustra kennen, beinhalten Anleitungen zum besseren Leben, die jeder für sich individuell umsetzen kann – und zwar völlig unabhängig davon, ob andere mitmachen oder nicht. Sie bestehen aus philosophischen Grundsätzen wie «Wenn dich einer auf die Backe schlägt, halte die andere Backe auch noch hin» (Jesus), «Wenn Du die Welt verändern willst, verändere dich selbst» (Buddha) oder «Gut denken, gut reden, gut handeln» (Zarathustra).
Philosophien sind zeitlos. Jeder kann so oft wiedergeboren werden, wie er Zeit benötigt, um geistig voranzuschreiten, und jeder kann jederzeit durch gute Taten sein Vorankommen beschleunigen oder durch deren Unterlassung verlangsamen. In individualistischen Systemen pflegt jeder eine unbestimmte Anzahl an Du-Ich-Beziehungen, die auf bunten Bündelungen individuell gewichteter Attribute beruhen wie Geschlecht, Alter, Neigung, Beruf, Stellung, Nachbarschaft, Bildung, Vergangenheit, Zukunft, Interessen usw. Diese können sich zudem jederzeit verändern, indem sie enger, bedeutsamer oder lockerer werden oder sich wieder auflösen. Es herrscht Diversität, es entstehen individuell geprägte Sympathien und Antipathien, die Währung ist Vertrauen. Philosophien lehren immer, mit individuellem Verhalten möglichst wenig Schaden anzurichten, wobei, wie erwähnt, jedem so viele Leben zur Verfügung stehen, wie er benötigt, um sich zum Guten zu entwickeln.
Ganz anders sieht es aus mit kollektivistischen Ideologien. Ideologien gehen nur auf, wenn alle mitmachen. Und genau hier liegt der Hund begraben.
Egal, worum es sich handelt – es machen nie alle mit. Das führt zum Dilemma aller Ideologien, nämlich dass diejenigen, welche nicht an sie glauben, Schuld daran sind, dass sie scheitern. Diejenigen, welche nicht an die Impfung glauben, sind schuld daran, dass sie nicht funktioniert.
Ideologien sind «PARADISE NOW!»-Ideen. Sie begegnen uns als Religionen, Staats- und Wirtschaftstheorien oder zuweilen als Gesundheits- oder Umweltschutzbewegungen und verbreiten vermeintliche Anleitungen dazu, wie man die gesamte Menschheit oder die ganze Welt ultimativ retten könne bzw. müsse. Denn Ideologien gehen einher mit Weltuntergangsszenarien, welche eine Dringlichkeit nahelegen, jetzt sofort alles der Ideologie zu unterwerfen.
Mit ihrer Fokussierung auf ein Thema vereinfachen Ideologien die Welt und verkürzen den Denkhorizont. Die sich jeder Kontrolle entziehende Buntheit der individuellen Du-Ich-Beziehungen wird ersetzt durch ein kontrollierbares, kollektivistisches Wir-und-die-Anderen-Denken. Die unzähligen, unterschiedlichen und individuell kombinierten Attribute, welche Du-Ich-Beziehungen ausmachen, werden verdrängt durch ein einziges Attribut, welches die Gesellschaft unterteilt in Freunde und Feinde bzw. Gläubige und Ungläubige, Getaufte und Ungetaufte, Arbeiter und Kapitalisten, Parteimitglieder und Klassenfeinde, Linke und Rechte, Geimpfte und Ungeimpfte, Zertifizierte und Unzertifizierte, Klimaschützer und Klimaschädlinge, Gendergerechte und Genderungerechte – also in Träger der neusten Wahrheit und deren Leugner und Ignoranten. Individuell gewichtete Attribute wie Sympathien und Antipathien spielen keine Rolle mehr. Die Ideologie teilt die Welt in Freund und Feind, und wer mit dem Feind verkehrt, wird selber zum Feind erklärt. Feinde gilt es zu iden-tifizieren, um sie zu bekehren und im Falle von «Unbelehrbarkeit» zu bekämpfen, isolieren, vertreiben und in letzter Konsequenz zu eliminieren. Gehorsamkeit ist Voraussetzung, Einfalt die Folge, und die Währung heisst Angst. Da kollektivistische Systeme mit einem beschränkten Zeithorizont rechnen, gehört zu jeder Ideologie die Rechtfertigung von Kollateralschäden.
Allen Strömungen der Gesellschaft liegen diese Muster zugrunde: Individualismus oder Kollektivismus, Philosophie oder Ideologie. Da sich die Philosophien nicht eignen, um Macht auszuüben und Menschen zu kontrollieren, sind Politik und Medien geprägt von Ideologien. Selbst die Kirche musste, um weltliche Macht ausüben zu können, groteskerweise eine christliche Philosophie durch eine unchristliche Ideologie ersetzen.
Philosophien beruhen stets auf den gleichen alten Tugenden: Bescheidenheit, Geduld, Barmherzigkeit, Liebe und Verzeihung usw., wohingegen sich Ideologien oft auf angeblich neuste wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Machbarkeit – sei es in der Informations-, Rüstungs-, Umwelt- oder Gentechnologie – stützen.
Das Weltuntergangsszenario taucht in immer neuen Varianten auf, handelt aber verlässlich von der unumkehrbaren Verwüstung des Planeten oder einer dramatischen Reduzierung der Weltbevölkerung. Um den bevorstehenden Weltuntergang noch rechtzeitig abwenden zu können, müssen Kollateralschäden in Kauf genommen werden – was den Zynismus des Kollektivismus entlarvt, da man damit nichts anderes tut, als Kollateralschäden zu verursachen, während man beteuert, damit Kollateralschäden zu verhindern.
Der alles mobilisierende Kampfbegriff des Kollektivismus lautet «Solidarität». Im Gegensatz zur Liebe, die sich individuell auf Pflanzen, Tiere und Menschen mit individuellen Problemen und Bedürfnissen verteilt, gilt die Solidarität ausschliesslich dem aktuellen Generaltrend, vor dem jedes andere Problem oder Bedürfnis zurückzustellen ist. Mit anderen Worten: Wo Solidarität eingefordert wird, hat Liebe keinen Platz mehr.
Wer sich also den Vorwurf gefallen lassen muss, unsolidarisch zu sein, darf sich als Hoffnungsträger einer besseren Zukunft wähnen. Weil er offensichtlich nicht einer grassierenden Ideologie verfallen ist und sich damit die Fähigkeit bewahrt hat, seine Liebe nach den individuellen Bedürfnissen von Menschen und Umwelt in seiner Nähe auszurichten. ♦
von Andreas Thiel
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