Jedes Kind hat seinen Ton
Immer wieder neu beschäftigt mich die Frage, was im Wesentlichen eine gute Schule ausmacht. Anfänglich waren es eine ganze Reihe von Voraussetzungen, aber von Mal zu Mal wurden es weniger. Und diese Wenigen sind auch schon alles: Die Qualität einer Schule entscheidet sich nämlich in erster Linie an der Art, wie Lehrerinnen, Lehrer und Eltern über Kinder und die Welt denken – und fühlen.
Rudolf Steiner begründete die erste Waldorfschule, indem er die künftigen Lehrer in einer Reihe von Vorträgen («Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik») mit seinem Menschen- und Weltbild vertraut machte. Insbesondere ging es ihm dabei natürlich um das Kind, sein Wesen, seine Entwicklung und den Zusammenhang mit uns erwachsenen Menschen, der Welt überhaupt. Was er in diesen Vorträgen inhaltlich anspricht, sprengt den Rahmen des Gewöhnlichen bei Weitem. Er versetzt uns mit dem, was er als «Grundlagen der Pädagogik» vorbringt, ganz schön ins Staunen. Steiner macht so etwa deutlich, dass allem voran eines gelingen müsste, nämlich, dass wir in der Begegnung mit den uns anvertrauten Kindern unser Ego erstmal in den Hintergrund rücken. Ein Kind, betont er, ist nur als etwas denkbar Grosses zu verstehen, und solange uns das «kleine Ego» im Wege steht, sind wir kaum in der Lage, etwas von der Grösse des werdenden Menschen zu erfassen.
Abschied nehmen vom Ego: Das ist schnell gesagt, aber schwergetan, sitzt es doch tief, dieses ängstliche Festhalten am Eigenen. Nur sehr zögerlich sind wir bereit, etwas davon loszulassen, weil es vermeintlich Halt vermittelt und die drohende «Leere» Angst macht.
Still werden in der Hektik des Alltags
Jeder Mensch, so auch jedes Kind, hat seinen ganz eigenen, unverwechselbaren «Ton». Ihn gilt es zu erlauschen, wollen wir ihm gerecht werden. Zu diesem Zweck müsste es – in und um uns – vorerst einmal still werden. Wie soll das in der Hektik unseres Lebensalltags gelingen?
Rudolf Steiner hat da seine ganz eigene Methode. Im Wesentlichen geht es ihm darum, uns frei zu machen, frei von allen «Behinderungen», die uns das vordergründige Leben in dieser Welt unvermeidlich auferlegt. Wie schnell legen wir uns fest, fällen Urteile, deren Tragweite wir nicht im Geringsten erfassen. Wer wagt es, sich in aller Bescheidenheit einzugestehen, dass er nicht viel weiss und nur ganz wenig wahrhaft versteht? Aber gerade dies müsste gegeben sein, wenn wir für Neues, bislang noch niemals Gedachtes, geschweige denn Beobachtetes oder gar Erfahrenes offenbleiben wollen.
Ich erwähne als Beispiel für «Behinderungen», wie ich sie verstehe, den so weit verbreiteten «defizitorientierten» Blick auf Kinder. Da findet seit einiger Zeit ein gewisses Erwachen und Umdenken statt. Gott sei Dank! Nur – was tritt an seine Stelle? Der ressourcenorientierte Blick? Was ist damit gemeint? Welche Haltung steht dahinter? – Fragen über Fragen! Manche Frage einmal offenhalten, anstelle vorschnell zu urteilen – gerade diese Neigung möchte Steiner in uns wecken, um eines Tages in die «Antwort hineinleben» zu können (Rilke).
Seelisches Atmen, seelisches Schlafen
Für das «Ankommen» der Kinder in dieser Welt ist es von grosser Bedeutung, sagt Rudolf Steiner, dass sie vorerst einmal richtig «atmen» und «schlafen» lernen. Klingt reichlich trivial. Ist es aber nicht. Steiner spricht nämlich in erster Linie nicht das physiologische Atmen und Schlafen an, sondern meint das seelische «Atmen» und «Schlafen». Was meint er damit?
Im Atmungsvorgang spiegelt sich eine Urgebärde: Aufnehmen und abgeben, zu sich kommen und in die Welt ausströmen. Ein- und Ausatmen lösen sich beständig ab. Die Luft, die wir einatmen und die, die wir ausatmen, ist nicht die gleiche. Worin unterscheiden sie sich? So wie wir tagein tagaus atmen, nehmen wir Eindrücke auf. Etwas davon geben wir wiederum in die Umgebung ab, und sei es einmal auch nur ein Lachen oder Weinen. Was wir wahrnehmen, lässt uns nicht unberührt. Es macht etwas mit uns. Sind es besonders heftige Eindrücke, liegt dies auf der Hand. Aber natürlich geschieht es grundsätzlich mit jeder Erfahrung.
Kinder kommen, wenn sie geboren werden, aus der «Weite» (der geistigen Welt) in die «Enge» (ihres Leibes). Einatmen «beengt», Ausatmen «befreit», wie es Goethe so treffend charakterisiert – beides sollte sich die Waage halten, sonst geraten wir aus dem Gleichgewicht: «Danke Gott, wenn er dich presst und danke ihm, wenn er dich wieder entlässt.»
An uns Erziehern ist es, über die Art und Menge der Eindrücke, die wir Kindern zumuten, zu wachen. Dass zu viele Eindrücke, was im Leben mancher Kinder heute der Fall ist, Kinderseelen bedrängen, liegt auf der Hand. Genauso wichtig wäre natürlich auch, die Art der Eindrücke zu prüfen. Vermag sie die Kinderseele überhaupt zu verkraften? Noch besser: Sind sie geeignet, unsere Kinder zu nähren? Erlaubt sei auch die Frage: Vermitteln wir den Kindern in der Schule «Steine» (nicht zuträgliche Kost) oder «Brot» (Seelennahrung)?
Mit «Brot» können sich Kinder verbinden. Mit «Steinen» nicht, sie bleiben (unverdaulich) «im Magen liegen» und belasten das Kind. Was geschieht, wenn es einschläft und seelisches Verdauen anstünde? Hat das vielleicht mit Blick auf den Weg in die Nachtwelt zur Folge, dass es gleichsam «ohne Proviant» unterwegs ist und seelischen «Hunger» leiden muss? Was sich tagsüber in unserem Leben tut, «lebt» nachts fort, wird vertieft und an bereits gemachte Erfahrungen gleichsam «angebunden». Was passiert dabei mit dem «Unverdaulichen»? Eben: Es liegt auf, hemmt uns – und die Kinder – im Vorankommen in der «anderen Welt».
Wachsames Hinschauen und Hinhören
Ich töne mit diesem Beispiel nur einmal an, in welche Richtung Steiners Gedanken gehen. So ahnt man vielleicht, was von uns gefordert ist, wenn wir seine Anliegen umsetzen wollen. Unvoreingenommenheit und die Bereitschaft, gar manches im Lebensalltag mit Kindern noch einmal viel genauer zu beobachten und zu bedenken, ist uns abgefordert. Denn was Steiner hier vorbringt, gilt es im Alltag zu überprüfen. Nichts war ihm selber mehr zuwider, als dass die Leute ihm einfach (blindlings) glaubten.
Eine Frau, die zeitlebens mit kleinen Kindern arbeitete, meinte einmal auf die Frage nach dem Schlüssel für das Gelingen ihrer Arbeit: «Alles eine Frage des wachsamen Hinschauens und Hinhörens. Der Rest ergibt sich von alleine.» Auch wenn mir ihre Antwort im ersten Moment fast etwas zu simpel vorkam, muss ich ihr heute Recht geben. Aber wie gesagt: Was vielleicht ganz einfach klingt, will erst ausdauernd erübt werden. Dabei wird es in einem ersten Schritt darum gehen, sich in der Zurücknahme seiner selbst zu üben. Erst wo wir in diesem Sinne schrittweise leer und immer leerer werden, öffnet sich in uns ein Raum, in dem sich etwas vom verborgenen Wesen des anderen Menschen offenbaren kann. Und aus der vermeintlichen Leere wird Überfülle! ♦
von Daniel Wirz
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