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George Orwell und ich

Alle reden von Orwell. Doch wer war der britische Autor und wie ist seine schreckliche Dystopie «1984» entstanden? Meine Geistesver wandtschaft mit ihm führte mich auf eine schottische Insel – und in ein eigenständiges Denken.

Eigentlich müsste man von einem Phänomen sprechen. Vom Orwell-Phänomen. Da schreibt ein englischer Autor, der bis dahin ausserhalb Grossbritanniens unbekannt war, vor 75 Jahren ein Buch, kurz danach stirbt er – und noch heute stossen wir ständig auf seinen Namen. Von Orwell ist fast täglich die Rede. Überall wo es um Überwachung, Gedankenkontrolle, totalitäre Systeme und Ideologien geht, wird der früh verstorbene Schriftsteller mit seinem prophetischen, düsteren Meisterwerk «1984» zitiert.

Doch nur wenige wissen, wer Orwell war und wie «1984» entstanden ist. Im schicksalhaften Jahr 1984 – in dessen Vorfeld junge kritische Menschen wie ich ernsthaft befürchteten, die Horrorvision werde Wirklichkeit –, reiste ich auf die schottische Insel Jura, auf den Spuren Orwells, der mir innerlich immer vertrauter wurde. Wie er hatte auch ich mich von linken Dogmen gelöst und einen eigenen Weg eingeschlagen. Meine innere Suche führte mich zu einem spirituell geprägten persönlichen Denken.

Deshalb beginnt mein Buch mit George Orwell und beschreibt dann meine eigene weltanschauliche Biografie, anhand von Gedankengängen, die während der letzten vier Jahre eine unverhoffte neue Aktualität erhielten. Zum ersten Mal fühlte ich mich verstanden – von all den Menschen, die durch Corona erwachten und seither, genauso wie ich seinerzeit, frei und selbstständig denken wollen. Der nachfolgende kurze Buchauszug stammt von meiner Ansprache an einer Zukunftstagung des Technikums Rapperswil in Rigi-Kaltbad 1994:

«Es klingt vielleicht seltsam, liebe Anwesende, aber ich glaube, wir müssen zum ersten Mal wirklich denken lernen. Ich will nicht behaupten, Sie denken nicht. Und doch ist es so, dass wir den ganzen Tag von einer Rolle in die nächste wechseln. Meistens ist unser Denken beeinflusst, ja gefesselt von der Funktion, die wir gerade einnehmen. Die Rolle, die wir spielen, fesselt unser Denken. Wann aber denken wir nicht als Interessenvertreter, sondern einfach als Mensch? Am ehesten in Momenten, wo wir allein sind oder wenigstens ungestört: im Zug zum Beispiel, wenn wir zum Fenster hinausschauen; an einer Bushaltestelle zum Beispiel, beim Betrachten eines Werbeplakats; zuhause, spätabends vielleicht, wenn wir allein in der Küche sind: Plötzlich denken wir über den Sinn unseres Lebens nach. Plötzlich geschieht es sogar, dass wir überhaupt über das Leben sinnieren, über Zufall und Schicksal, über den Tod und was wohl danach kommt.

In solchen Momenten fallen alle Verkleidungen von uns ab; in solchen Momenten denken wir ganz als wir selbst. Das Problem ist nur, dass wir es nicht bewusst tun. Wir lassen diese Gedanken an uns vorüberziehen, ohne sie festzuhalten. So zufällig, wie sie meistens auftauchen, verblassen sie wieder. Aber das müsste nicht sein.

Wir könnten solche Gedanken bewusster denken – indem wir unsere Sachzwänge, unsere Sonderinteressen, die sich ständig in unser Denken mischen, ein wenig zurückbinden, indem wir Raum schaffen für die Persönlichkeit, die wir sind.

Ich kenne, ehrlich gesagt, nur wenige Menschen, von denen ich den Eindruck habe, dass sie wirklich selbstständig denken. Wir haben heute eine geistige Freiheit wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte – doch wir nutzen sie nicht. Stattdessen übernehmen wir fremdes Denken, Expertendenken, Parteidenken, Leitartikel-denken. Und wer sich doch um eigene Gedanken bemüht, muss damit rechnen, dass er plötzlich allein steht. So ist es mir ergangen.

Ich war früher politisch sehr engagiert, auf der extrem linken Seite des Spektrums. Als ich mich dann von der Linken löste, öffentlich lossagte und mir endlich erlaubte, die Welt auf meine Art zu betrachten, da merkte ich, dass dieser Schritt als sehr ungewöhnlich erachtet wurde. Die Freiheit, die ich mir nahm, meinen eigenen Weg zu gehen, führte mich in ein Niemandsland.

Dieses Unverständnis, dem ich damals begegnete, hat damit zu tun, dass wir eine aktive Auseinandersetzungmit der eigenen Weltanschauung im Allgemeinen nicht für nötig erachten. Die meisten von uns kennen das gar nicht, diese grundsätzliche Infragestellung. Wir sind eher links, eher rechts, eher religiös oder atheistisch, und von dort, wo wir ungefähr stehen, beziehen wir gewöhnlich unsere Informationen, unsere Ansichten – all das, von dem wir glauben, es sei unsere ‹eigene Meinung›. Die meisten von uns bleiben mehr oder weniger dort, wo das Leben sie weltanschaulich hingestellt hat. Wir wechseln eher den Wohnort, eher den Beruf als unser Weltbild. Dabei steckt so viel in uns!

Machen Sie den Versuch, in einer ruhigen Minute, und stehen Sie vor den Spiegel. Blicken Sie sich in die Augen, ganz ernsthaft, ganz ruhig. Es gibt Menschen, die das gar nicht aushalten würden. Sie würden sich wie betroffen fühlen, wie durchschaut. Aber wenn Sie es können, liebe Anwesende, dann werden Sie plötzlich spüren, dass Sie nicht nur der Mensch sind, als den Sie sich nor- malerweise erleben. Sie werden erkennen, im Ausdruck Ihrer Augen, dass in Ihnen etwas Grösseres ist.»

***

Nicolas Lindt ist Schriftsteller und lebt in Wald ZH und Segnas.

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