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Friktionslos durch die Disruption

Versuch einer Aufklärung des Unübersichtlichen

Wohin man auch blickt: Alles ist im Umbruch. Im Aufbruch. Altes bricht weg, Neues bricht herein. Niemand weiss, was kommen mag. Nicht nur unsere Nerven sind zum Zerreissen gespannt.

Nach den Corona-Wegsperrungen, dem Versperren von Türen und Einsperren von Krankheitsverdächtigen leiden die Seelen der Massen. Psychologen wissen nicht, wohin mit der Arbeit. Therapieplätze sind rar und ausgebucht. Wie sehr der verwirrte Mensch auch auf den Anrufbeantworter seines Therapeuten weint: Der ruft so schnell nicht zurück.

Dreifach geimpft sass der Musterbürger mit Maske in seinem neuen Elektromobil, um im nächsten Bioladen einen veganen Tofu-Bratling zu erwerben. Mit plastikfreien Strohhalmen genoss er am Steuerungs-Screen der rollenden Hightech-Maschine seine fair gehandelte Hafermilch-Latte aus dem wiederverwertbaren Becher. Bald schon würde er – hinter einer Plexiglas-Spuckschutzwand – den einzigen Menschenkontakt seines Tagesablaufes haben: Eine Kassierperson würde ihm behandschuht seinen Einkauf im Gegenzug für das berührungslose Hochhalten einer Kreditkarte aushändigen. Dann schnell zurück zum nächsten Online-Meeting.

Inzwischen sind wir – vorsichtig, sehr vorsichtig – in unsere Büros zurückgekehrt. Langsam nur haben sich die Fäuste wieder zum Gruss geöffnet und das Gegeneinanderdotzen der Fingergrundgelenke oder Ellenbogen mit dem Handschlag getauscht. Die Gespräche am Arbeitsplatz wirken nach wie vor steif: Man findet immer weniger Elektroroller in der Innenstadt. Stimmt es wirklich, dass die jetzt schon wieder verboten werden? Warum meldet sich beim Lieferdienst niemand mehr? Stimmt es wirklich, dass die insolvent sind? Ist es für die Lunge schädlich, wenn man den ganzen Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad auf einer stinkenden, knallroten Sonderspur fährt? Stimmt es wirklich, dass die Grossbatterien an einem Lastenfahrrad von Kleinkindern in afrikanischen Minen hergestellt werden?

Eine «Disruption» ist eine Zerreissung. Ärzte beruhigen schmerzerfüllte Unfallopfer mit dem Wort «Ruptur»: Wenn der Doktor das sagt, tut es schon weniger weh. Es klingt wie die Verheissung einer nahenden Heilung. Der erste Schritt zur richtigen Antwort ist die richtige Frage. Der erste Schritt zur Genesung ist die richtige Diagnose. Fehlt nur noch die Auswahl der richtigen Therapie. Dann kann alles ganz schnell gehen. Während der Krankenwagen mit Blaulicht durch die neuangelegte Fussgängerzone rast, hört der Patient in der Watte seiner Schmerzmittel das Reden von der Ruptur. Ob er weiss, dass seine Bänder und Sehnen und Muskeln zerrissen sind?

Was dem Arzt die Ruptur, das ist dem Ökonomen die Disruption. Hier reisst nicht die Statik eines Körpers, sondern hier reissen Lieferketten. Hier zerreissen wirtschaftliche Zusammenhänge. Hier zerreissen Lebensläufe und Lebenspläne. Hier zerreissen Hoffnungen und Träume. Die volkswirtschaftliche Disruption beendet lang gewachsene Zusammenhänge. Ganze Nationalökonomien wenden sich in eine andere Richtung: Sie wollen neue Produkte, sie erzwingen neue Produktlinien und neue Produktionsabläufe. Was gerade noch vertraut erschien, womit man sich arrangiert hatte, was man beherrschte und verstand: Weg ist es! Abgerissen, weggerissen, fortgerissen.

Wenn Menschen sich fürchten, dann sprechen sie schnell von der Hölle. In der Hölle wohnt der Teufel. Den nennt man auch Satan. Oder Diabolos. Der Diabolos ist – seiner griechischen Wortherkunft nach – der Durcheinanderwerfer. Der Durcheinanderwürfelnde. Er spielt nicht entspannt Boule, sondern er schmeisst mit Schicksalen nur so um sich. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Alles gerät in Unordnung. Nichts ist mehr dort, wo es war. Es entsteht die grosse Verwirrung. Haltlosigkeit ist eine psychologische Diagnose. Nirgendwo findet der Betroffene eine Stütze. Wo er gerade noch rasten konnte, verschnaufen und ausruhen, da ist jetzt nur ein Loch. Und sinnbildhaft erheben sich überall die rot-weissen Verkehrsleitbaken in unseren Städten. Eben noch bist du auf dieser Strasse gefahren, eben noch bist du auf diesen Wegen gegangen, eben noch war hier eine Ampel. Doch jetzt: Abbiegegebot! Statt einmal nach links zum Ziel heisst es jetzt: Fünf Kilometer gegenläufig im Kreis um die City herum. Wo Disruptionen sind, da ist motivierendes Stupsen nicht fern. Man nennt es: Das Neue Normal.

Je mehr der Einzelne herumgeschubst und durcheinandergewirbelt wird, je mehr Hindernisse ihm in seinen Alltag gelegt und vor die Füsse gekegelt werden, desto schneller schlägt sein verwirrtes Herz. War er gerade noch der Todesgefahr eines neuartigen Virus um Haaresbreite lebendig entronnen, glüht ihm nun der mögliche Hitzetod von allen Bildschirmen entgegen. Griechenland brennt, Italien glüht, Spanien lodert. Warte nur, bald kochest auch du!

Wenn es nicht das blinde Schicksal ist, das unser Leben mal hier und mal dort, an kleinen Stellen, gut verteilt über die Lebenszeit, in neue Bahnen zwingt, sondern wenn es ein totaler Generalangriff auf unsere routinierten Abläufe ist, eine geplante Grossoffensive zur Zerreissung aller kollektiven und individuellen Gewohnheiten – dann fordert die Lebensklugheit den Einzelnen plötzlich ganz anders heraus. Er steht unvermittelt vor der Frage, ob er sich dem revolutionär herbeiverfügten Neuen Normal beugt, oder ob er das, was bis eben noch sein eigenes Leben war und hiess, verteidigt.

Während alles Gewohnte und Vertraute zusammenpurzelt, die Perspektiven verschwinden und die Träume zerfallen, steigt der Druck nicht nur auf die Seelen, sondern auch auf die Gemeinschaften, auf die Geldbeutel, auf das Alltagsverhalten und – vor allem – auf die Erwartungssicherheiten. Was gedrückt und gepresst wird, das heizt sich auf. Die Gesetze der Physik sind den menschlichen Legislatoren unzugänglich. Aber auch wenn Volkswirtschaften gepresst und gegängelt werden, hören sie auf, sich in eingearbeiteten Routinen zu bewegen. Der Reibewiderstand im System wächst. Die Unzufriedenheit auch. Techniker sprechen von Friktionen. Man versucht, sie zu überwinden. Technisch, aber auch ökonomisch. Kann der Einzelne ihnen entgehen? Was tun, um nicht zerrieben zu werden zwischen den politischen Grossmühlsteinen?

Friktionslos durch Disruptionen zu schwimmen kann Aalen gelingen. Aber friktionslos kann auch bleiben, wer seinen eigenen Standpunkt gut erhärtet. Wer sich wappnet gegen jene Teile des Neuen Normal, die ihm missfallen, die seinen Werten widersprechen, von denen er – anders als seine Mitmenschen vielleicht – schon sieht, dass sie in allgemeines Chaos münden. Merke: Menschlich geplante Disruptionen sind zerstörerisch, aber sie sind nicht aus sich heraus kreativ. Wenn Altes vernichtet wird, entsteht nicht automatisch gutes Neues. Im Umbruch gewisse Konstanz zu wahren, inmitten des Wegbruchs Wertvolles zu erhalten, sich am Aufbruch anderer nicht kritiklos zu beteiligen – all das kann auf mittlere und lange Sicht ein Segen für alle sein. Je kopfloser die Masse agiert, desto mehr Kopf muss der Einzelne investieren, um friktionslos durch die Disruption zu tauchen. Nicht nur Ärzte wissen: Am besten ist, wenn nichts gebrochen und gerissen ist. ♦

von Carlos A. Gebauer


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