Ein Arzt der leisen Töne

Denis Beyer arbeitet als Hausarzt in Muotathal. Er findet, dass wir von der Erwartungshaltung «Herr Doktor, machen Sie mich gesund!» wegkommen und mehr Eigenverantwortung übernehmen sollten.

Eine kurvenreiche Strasse führt durch den Wald, vorbei an Felsen. Die Bergspitzen, die langsam sichtbar werden, sind weiss gepulvert. Rauch steigt aus den Kaminen und mischt sich mit der kalten Luft. Die Strassen sind menschenleer. Um das Tal hier, durch das die 30 Kilometer lange Muota fliesst, und seine Bewohner ranken sich viele Geschichten und Mythen – hier wird gejuuzt, getrychelt und vorausgeschmöckt.

Einer der 3468 Einwohner (Stand 2021) der Gemeinde Muotathal heisst Denis Beyer. Der 43-jährige Ostschweizer wohnt und arbeitet seit rund drei Jahren hier. Eigentlich hatte er im Engadin als Hausarzt tätig sein wollen. Dass sich dieser langgehegte Traum nicht erfüllte, war für ihn anfangs eine «grosse Tragödie». Doch das Schicksal wollte es eben anders, wie er erzählt.

So kam es, dass er eine Blindbewerbung an Matthias Gauger, denInhaber der Praxis für Allgemeinmedizin inMuotathal, schickte. Wie Beyer erfuhr, suchte Gauger zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nach einem Ersatz für einen pensionierten ärztlichen Mitarbeiter. «Eigentlich war die Frist, die Matthias Gauger festgelegt hatte, um einen neuen Mitarbeiter zu finden, bereits abgelaufen – es stand sogar die Frage im Raum, ob die Praxis aufgelöst werden sollte –, aber dann kam eben ich mit meiner Blindbewerbung.»

Dass er ins Muotathal gezogen sei, sei im Nachhinein betrachtet das Beste, was ihm passieren konnte, findet Beyer heute. Gemeinsam mit dem zehnköpfigen Praxisteam sorgt er seit Herbst 2019 dafür, dass die medizinische Grundversorgung in der Gemeinde sichergestellt wird.

«Durch die Kraft der vielen kann viel Gutes entstehen.»

Die vergangenen drei Jahre waren für Beyer nicht leicht, aber lehrreich: «Die Pandemie hat mir gezeigt, dass wir unsere Gesundheit wieder selbst in die Hand nehmen sollten.» Ein Aha-Erlebnis hatte er, als die Muotathaler Arztpraxis aufgrund mangelnden Testangebots im Kanton beim Aufbau von vier Testzentren in der Region mitwirkte. Gemäss Beyer konnten für dieses Projekt innert kürzester Zeit 200 Freiwillige zusammengetrommelt werden. Jugendlichen war es daraufhin möglich, sich zum Selbstkostenpreis testen zu lassen. «Durch die Kraft der vielen kann viel Gutes entstehen.»

Beyer erzählt von einem weiteren Projekt, das «langsam heranreift». Es handelt sich dabei um ein medizinisches Versorgungsnetzwerk, das nach dem Prinzip der Nachbarschaftshilfe funktionieren soll. Ziel ist es, dass ehrenamtliche Helfer aktiviert werden können, wenn Hilfe benötigt wird. Etwa wenn Personen, die ihre pflegebedürftigen Angehörigen zu Hause betreuen, eine Entlastung brauchen. Beyer kann sich beispielsweise vorstellen, dass sich nachbarschaftliche Sitzwache-Pools bilden können. Dabei sollen vor allem auch Laien zum Zug kommen, die vom Erfahrungsschatz medizinischer Fachleute lernen. Das medizinische Versorgungsnetzwerk soll Bürger zum eigenen Handeln bewegen, wie Beyer erklärt.

Das Gesundheitssystem sei nicht mehr so nahe bei der Bevölkerung, findet der Arzt. «Die Medizin muss sich vom digitalen Korsett befreien und wieder zur Menschlichkeit zurückfinden», sagt er und fügt an: «Auch sollten wir die Erwartungshaltung ‹Herr Doktor, machen Sie mich gesund!› überdenken und wieder mehr Eigenverantwortung übernehmen. Wussten Sie, dass im alten China Ärzte nur bezahlt wurden, wenn ihre Patienten gesund waren?»

Telefonanrufe aus der ganzen Schweiz

Er sei froh, dass bei Themen rund ums Coronavirus nicht mehr wie einst die Emotionen überhandnähmen, sondern die Sache vermehrt mit einem nüchternen Blick beurteilt werde, so Beyer. Die Pandemie verbindet er vor allem mit Telefonklingeln: «Am Praxisempfang läutete das Telefon praktisch den ganzen Tag, und das bei drei offenen Leitungen. Hatten wir mal den Anrufbeantworter für 20 Minuten drin, kam es teilweise zu über 80 Anrufen in der Abwesenheit.» Dass die Drähte so heiss liefen, hatte seinen Grund: Es sprach sich schnell herum, dass in der Muotathaler Praxis keine Covid-19-Impfungen verabreicht werden. Dies führte gemäss Beyer unter anderem dazu, dass Personen aus verschiedenen Kantonen ihre Hausärztin oder ihren Hausarzt wechseln und in die Muotathaler Praxis kommen wollten. Einige Bürger hätten wohl wegen der Corona-Massnahmen das Vertrauen in ihre bisherige Gesundheitsversorgung verloren, vermutet der 43-Jährige. Die Praxis hatte aber schon damals einen Aufnahmestopp für Menschen ausserhalb des Tals.

Beyer und Gauger hatten während der dritten Corona-Welle im Frühjahr 2021 ein 22-seitiges Dokument verfasst, in dem sie darlegten, weshalb sie in der Praxis keine Covid-19-Impfungen anbieten. Dieses sei «unausgewogen», befand das Amt für Gesundheit und Soziales des Kantons Schwyz. Mittlerweile ist das Dokument nicht mehr auf der Website der Praxis abrufbar, allerdings ist eine abgeänderte und aktualisierte Version vorzufinden.

In Beyers Augen ist das Zulassen von Meinungsvielfalt «ein Zeichen einer gesunden Gesellschaft». Den Mitmenschen zuhören, ihre Ängste und Sorgen wahrnehmen und versuchen, die verschiedenen Blickwinkel zu verstehen, das sei das Gebot der Stunde, findet der Arzt.

Beyer ist ein Mann der leisen Töne – das Geschrei der Empörer hat er nicht nötig: «Seine Meinung fein dosiert zu äussern bringt mehr, als zu wettern.» Beyer ist differenziert, nicht radikal: «Als Hausarzt habe ich SARS-CoV-2 sehr gut kennengelernt. Wenn es zu Komplikationen kam, waren diese schwerwiegender als bei einer herkömmlichen Grippe – dies vor allem bei der Delta-Variante.» Der 43-Jährige hinterfragt und blickt über den Tellerrand: «Ich kann die Sichtweise der Spitalärzte nachvollziehen und habe Verständnis dafür, dass viele von ihnen in der Covid-19-Impfung die Lösung sahen.» Dass ein Intensivmediziner in der Stadt eine andere Sicht als ein Hausarzt im Tal haben könne, liege auf der Hand. Es spiele eben immer eine Rolle, aus welchem Blickwinkel die Lagebetrachtet werde. «Aus meiner Sicht waren aber viele Massnahmen nicht verhältnismässig, und das habe ich damals auch öffentlich kundgetan.»

«Diese Erfahrung war sehr heilsam.»

Beyer ist bedacht, andere Standpunkte zu verstehen – das war aber nicht immer so. Doch von vorn: Beyer war 21 Jahre alt – «ich war noch grün hinter den Ohren» –, als er sich entschied, die vierjährige Ausbildung in Homöopathie zu machen. Dazu bewogen habe ihn vor allem ein Erlebnis aus der Kindheit. Er sei damals sehr kränklich gewesen, habe unter anderem an chronischer Mittelohrentzündung gelitten. Antibiotika, die in jener Zeit grosszügig verschrieben worden seien, hätten bei ihm kaum Wirkung gezeigt, die homöopathischen Mittel hingegen schon.

«Nach der Homöopathie-Ausbildung musste ich feststellen, dass ich immer noch grün hinter den Ohren war; ich fragte mich, ob ich den Patienten wirklich schon gerecht werden konnte.» Es war in Indien – Beyer hospitierte dort –, als ihm ein homöopathischer Arzt empfahl, noch Medizin zu studieren, was er dann auch tat. «Während des Medizinstudiums musste ich mir eingestehen: Aha, es gibt verschiedene Sichtweisen! Es ist gut, wenn ich die Glaubenssätze, die ich aufgebaut habe, überdenke – diese Erfahrung war sehr heilsam.»

Beyer ist es ein Anliegen, das Pro und Kontra einer Sache abzuwägen – er ist kein Arzt, der voreilig handelt. Der 43-Jährige erinnert sich an den Start der Impfkampagne: Eigentlich hatte sich die Praxis bereits bei der Ärztegesellschaft fürs Impfen angemeldet – «wir wollten kein Spaltkeil sein». Doch dann kam es zu den zwei Impfvorfällen in Österreich, die vor rund zwei Jahren für Schlagzeilen sorgten: Zwei Krankenschwestern liessen sich mit dem Vakzin von AstraZeneca impfen. Während die eine zehn Tage nach der Impfung starb, landete die andere aufgrund einer Lungenembolie im Spital. Bei Beyer kamen viele Fragen und grosse Zweifel bezüglich der globalen Impfstrategie auf. Vor allem die «mangelhafte Produktüberwachung» und die «undifferenzierte Nutzen-Risiko-Abwägung auf die gesamte Bevölkerung» machten ihn stutzig.

«Ich bin froh, dass wir damals entschieden haben, keine Patienten in unserer Praxis zu impfen», sagt Beyer. Bilanz über die Corona-Pandemie zu ziehen, masse er sich aber nicht an – diese Analyse überlasse er den Geschichtsschreibern. Die Pandemiejahre hätten ihn viel Energie gekostet. Was ihm besonders zu denken gab: «An gewissen Tagen habe ich mich dabei erwischt, wie ich auf die Uhr geschaut und mich dann jeweils gefreut habe, wenn schon bald Feierabend war.» Er sei gleichgültigergeworden, sagt Beyer, das zu erkennen habe ihm innerlich sehr wehgetan.

Wieder ins Lot gebracht hat ihn ein einmonatiger Offline-Urlaub in Asien. Während seiner Auszeit ging er viel in die Stille und lebte enthaltsam: «Stillwerden und Fasten – sei es bezüglich Nahrung oder bezüglich Sinnesreize –, diese wichtigen Bestandteile in meinem Leben sind für mich der Schlüssel zum Heilwerden.» Er wolle sich hier auf der Erde nicht ausleben, sagt Beyer, vielmehr wolle er so leben, dass er seinen Daseinszweck erfüllen kann.

Janis Joplin aus der Jukebox und Schwyzerörgelimusik

Beyer sucht das innere Licht, nicht das Rampenlicht. Lärm und zu viele Reize täten ihm nicht gut; er sei ein «eher zivilisationsscheuer Mensch» und habe es gerne, wenn es am Abend dunkel und still ist. «Ich muss zugeben, dass ich schon ein bisschen ein Eigenbrötler bin», sagt Beyer. Klar gebe es hier in Muotathal hin und wieder Dorfgerede, aber die Menschen würden so akzeptiert werden, wie sie sind. «Wenn im Gasthaus Hölloch ein Älpler, ein Gemeinderatsmitglied und ein Typ aus der Metal-Szene zum gemeinsamen Jass aufeinandertreffen – im Hintergrund läuft Musik von Janis Joplin, später spielt ein weiterer Gast Schwyzerörgeli –, dann ist das doch wahrlich gelebte Vielfalt, nicht?»

Auf der kurvenreichen Strasse geht es schliesslich wieder zurück ins Unterland – weg von der Stille, rein in den Trubel. Die unzähligen Lichter der Städte flackern aus der Ferne. Das Muotathal leuchtet auch ohne Lichter – seine Urigkeit, seine Eigenheiten und die bunte Mischung von Charakteren verleihen ihm eine aussergewöhnliche Leuchtkraft. ♦

von Luisa Aeberhard

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Dr. med. Denis Beyer ist Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH mit Ausbildung in klassischer Homöopathie. Er ist als Hausarzt in Muotathal im Kanton Schwyz tätig.


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