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Die Welt der irrationalen Zahlen

Nachsitzen bei Jérôme

Ich war ja lange ein grosser Fan von Noten. Also nicht Musiknoten, dort bin ich ein Analphabet – oder Illetrist würde man heute sagen. Ich bin also genauso unfähig, ein einfaches Lied auf dem Klavier oder der Gitarre zu begleiten, wie irgendwo in China einen Chai Latte zu bestellen. Aber eben, ich meine die Schulnoten.

Schon als Schüler waren sie immer ein Highlight (man könnte auch das deutsche Wort nehmen, aber das ist peinlich, vor allem im Schulzimmer). Also nicht unbedingt die Prüfungen selbst, sondern der Moment, als der Lehrer mit ebendiesen Prüfungen wieder vor der vereinten Klasse stand. Manchmal musste man auch länger darauf warten und jedes Mal, wenn der Lehrer sagte «Nein, leider noch nicht, keine Zeit», war es, wie wenn man einem kleinen Kind eine Achterbahnfahrt versprach, es aber dann auf morgen vertröstete. Wenn dann der grosse Tag gekommen war und die Prüfungen sauber korrigiert waren und der Lehrer noch einige Takte dazu sagte, wie die Prüfung denn im Allgemeinen gelaufen sei, steigerte sich die Aufregung ins Unermessliche. Manchmal fühlte es sich fast so an wie der Tag vor Weihnachten. Und dann natürlich immer wieder das Gleiche: Geballte Fäuste auf der einen Seite, ein Schluchzen auf der anderen. Eine Zahl im Viertelnotentakt (etwas von Musiknoten scheine ich doch zu verstehen) war verantwortlich für Lust oder Frust. Erstaunlich war, dass es nicht unbedingt linear verlief. Die Zahl Vier konnte bei den einen Tränen der Freude, bei den anderen blankes Entsetzen und das nackte Schaudern hervorrufen. Besonders schlimm war es bei denen, die nach dem Tiefschlag in der Schule sich noch auf einen weiteren zu Hause vorbereiten mussten: noch mehr Tränen, eine weitere schlaf- und traumlose Nacht.

Jetzt, als Lehrer, mache ich die gleiche Erfahrung, einfach von der anderen Seite des Pultes. «Händ Si d’Prüefige scho korrigiert?» ist eine der meistgestellten Fragen. Wenn ich dann sage, «leider nicht, keine Zeit», ist es wieder, wie wenn man einem Kind die versprochene Achterbahnfahrt vermiest. Wenn ich dann endlich Zeit hatte und die Prüfungen sauber korrigiert zurückkommen, ist es das gleiche Setting wie vor 25 Jahren: Jauchzer der Freude und Tränen der Fassungslosigkeit, sie liegen so nahe beieinander. Zwischen der Drei und der Fünf liegen mindestens zwei ganze Welten.

Und je länger ich darüber nachdenke und vor allem, je länger ich unterrichte, desto mehr muss ich sagen, eigentlich habe ich die Noten satt. Nichts Weiteres als kalte Zahlen, die mit dem Kind eigentlich nicht sehr viel zu tun haben. Wir messen dem Menschen – zurecht – keinen Wert zu. Wieso sollte es in der Schule anders sein? Wozu all diese Zahlen? Wer gibt der Schule, also dem Staat, das Recht, einem Kind eine Zahl zu präsentieren und zu behaupten, diese hätte etwas mit ihm zu tun?

Ich höre schon das Argument: Noten abschaffen, das geht nicht, woher sollen denn die Schüler sonst ihre Motivation nehmen? Mit Verlaub: Ein Bildungssystem, das sich entschieden hat, aus der unendlichen Menge aller Zahlen die ersten sechs positiven auszuwählen und diesen dann die Macht zu geben über Motivation, Erfolg oder Misserfolg, ist vor allem eines: beschränkt.

Aus Trotz schreibe ich die Noten deshalb nie mit Rot, sondern immer in einem zarten Rosa. Vielleicht hilft das. Oder es steigert bei manchen den Frust zusätzlich. Aber eben, um am System etwas zu ändern, müsste man in die Politik. Doch dazu fehlen mir die Nerven und die Courage. Und vor allem hatte ich dazu wohl auch zu schlechte Noten in Staatskunde.

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Jérôme Schwyzer ist Sekundarlehrer und Präsident des Lehrernetzwerks Schweiz.


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