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Der Geist Europas

Ulrike Guérot ist Professorin für Europapolitik an der Uni Bonn und eine der prominentesten Kritikerinnen der Corona-Massnahmen-Politik. Nachdem sich ihr Essay «Wer schweigt, stimmt zu» über Monate hinweg in den deutschen Bestsellerlisten hielt, erscheint mit «Endspiel Europa» nun ihr nächster Querangriff inklusive Utopie-Entwurf. Wir sprachen mit ihr über den Traum Europa, seine Defizite und die Notwendigkeit der Transzendenz.

«DIE FREIEN»: Liebe Ulrike, seit mehr als 30 Jahren setzt du dich mit Europa, seiner Vergangenheit und Zukunft, seinen Problemen und Potenzialen auseinander. Dabei kommst du immer öfter auf das geistige, das spirituelle Erbe Europas zu sprechen. Warum?

Ulrike Guérot: Mein Nachdenken über oder meine Arbeit an Europa fing 1992 an. Das war zum Zeitpunkt des Maastrichter Vertrags, was ja hiess: «Ever closer union», also «immer engere Union». Zu diesem Zeitpunkt war ich im Bundestag und habe hautnah mitbekommen, wie dieser Vertrag verhandelt wurde und eine Aufbruchsstimmung auslöste. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie freudig damals alle darüber waren, sich in ein geeintes Europa hineinzudenken. Das hat mich nicht verlassen, über viele Jahre, ganz egal, wo ich war – in Brüssel, in Washington, in Wien oder in Berlin. Dieses Nachdenken über Europa, dabei aber auch zu sehen, wie sich die EU immer mehr von dem entfernte, was Europa sein sollte. Das wurde dann auch mein Thema: Eine neoliberale EU, Institutionen, die nicht funktionieren, die fehlende Bindung der EU mit den Bürgern, die populistische Ablehnung der EU. Das ist alles nicht mehr das, wovon wir 1992 geträumt haben. Damals hatte Europa auch eine spirituelle Dimension. Vielleicht sind mir deshalb aus meiner Arbeit für Jacques Delors, den EU-Kommissionspräsidenten 1985 – 1995, die folgenden Sätze besonders in Erinnerung geblieben: «Wir müssen Europa eine Seele geben» und «In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben». Denn gerade jetzt, wo Europa sich beinahe wieder im Krieg befindet, habe ich das Gefühl, dies ist ein Verrat an der europäischen Erzählung, an Europa. «Nie wieder Krieg» hiess es. Aber heute kämpft Europa wieder für einen vermeintlich geeinten Nationalstaat. Dabei sollte Europa die Überwindung der klassischen Nationalstaaten sein. Dieser fundamentale Verrat an den europäischen Werten springt mir gerade sehr ins Auge. Und deswegen wünsche ich mir tatsächlich, dass Europa seine Transzendenz, seine Spiritualität oder seinen Geist wiederfindet. Im Sinne von Jacques Delors: Wir werden Europa nicht mit Waffen beseelen.

Wie sähe eine spirituell-geistige Transzendenz Europas aus?

UG: Erst einmal braucht es mehr als einen Markt. Es ist ein grosses Problem, dass die Einbettung des Binnenmarktes in ein politisches Projekt Europa nie richtig gelungen ist. Es hat die europäischen Bürger mürbe gemacht, es hat sie gegen Europa gewendet. Viele bemerken das heute. Vielleicht war deswegen mein 2016 erschienenes Buch «Warum Europa eine Republik werden muss» ein so grosser Erfolg. Das hat eigentlich gezeigt, wie viele Leute schon damals im Zusammenhang mit Brexit, Populismus, Orban, PiS usw. das Gefühl hatten: die EU ist nicht die Utopie Europas, sie ist nicht das, wovon wir geträumt hatten. Wir wollen diese EU nicht, aber wir wollen Europa. Europa muss anders werden, une autre Europe, alter Europa, so heissen die Debatten. Und auf dieses «anders» kommen wir jetzt: Was hiesse diese Transzendenz, diese Beseelung Europas? Davon handelt das letzte Kapitel meines neuen Essays «Endspiel Europa». Dort habe ich ausgeführt, dass Europa aus einer Denk- und Geistestradition kommt, die im besten Sinne republikanisch ist. Und das muss man im Wortsinne verstehen: Wir reden derzeit sehr viel über Demokratie, aber selten über die Republik. Die Republik aber ist von Platon über Aristoteles, Cicero, Rousseau, Kant der Begriff dafür, wie in Europa seit 2000 Jahren politische Ordnungen und Bürger-Staat-Beziehungen geregelt werden. Insofern ist die Republik eigentlich das Juwel der europäischen Geistesgeschichte. Republik – also res publica – bedeutet schliesslich Gemeinwohl – dem Gemeinwohl unterstellt. …

von Lilly Gebert


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