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Mein Halbtax auf Papier

Kann man auch als Abo-Besitzer ohne Datenspur im öffentlichen Verkehr unterwegs sein? Ein Selbstversuch.

«Alle Billette vorweisen bitte!» Das Herz rutscht mir in die Hose. Jetzt ist es also soweit. Ich krame nervös in meiner Tasche herum und ziehe ein gefaltetes A4-Blatt heraus. Wird es wohl glatt gehen? Wird die Zugbegleiterin mein Halbtax-Abo akzeptieren? Ich habe es selbst gebastelt: eine Kaufbestätigung meines Abos mit aufgeklebtem Konterfei und meiner Unterschrift. Letztere liess ich unkompliziert auf der Gemeinde beglaubigen. Heute zeige ich «mein» Halbtax zum ersten Mal.

Wer wohl alles über meine Reisen Bescheid weiss?

Das Dokument entsprang meinem Bestreben, auch als Abo-Besitzer ohne den SwissPass im öffentlichen Verkehr unterwegs sein zu können. Die rote Karte kam mir zunehmend verdächtig vor, nachdem ich in der Zeitung über eine Datenpanne beim SwissPass gelesen hatte. Eine halbe Million Kundendaten sollen online einsehbar gewesen sein. Wer wohl sonst noch alles über meine Reisen Bescheid weiss? Die SBB schätze ich als eines jener Unternehmen ein, die auf eine digitale Zukunft drängen. Und der SwissPass ist Ausdruck davon.

Ich fragte die SBB um ein Halbtax auf Papier an. «Das Abo gibt es nur noch mit SwissPass», lautete die Antwort. (Was nicht ganz stimmt: SBB-Mitarbeiter können heute noch mit der alten dunkelblauen Abo-Karte unterwegs sein. Diese ist zwar ebenfalls nicht aus Papier, aber enthält keinen Speicherchip.) Deshalb mein Kniff mit der Kaufbestätigung. Diese schickte mir die SBB innert weniger Tage zu.

Daten reichen bis in die 1990er-Jahre zurück

Doch was speichert das grösste Schweizer ÖV-Unternehmen eigentlich? Die Datenabfrage bei der SBB zeigt, dass Bewegungsdaten über längere Zeit gesammelt werden. Jedes online gelöste Ticket der letzten fünf Jahre ist gespeichert. Die Abo-Daten reichen bis in die 1990er-Jahre zurück. Meiner Aufforderung folgend, sicherte mir die SBB die Löschung dieser Daten zu. Alle Angaben natürlich ohne Gewähr, da ich weder die Datenabfrage noch die Löschung überprüfen kann. Weiter wollte ich wissen, was der Zugbegleiter bei der Ticketkontrolle alles auf seinem Gerät speichert oder weitergibt. Gemäss Auskunft der SBB werden die Daten nicht weiterverwendet – ausser man zeigt sein Billett mit dem Handy. Hier müsse sichergestellt werden, dass die Tickets nicht an andere Reisende weitergereicht werden – etwa als PDF-Datei. Also wird der Reiseweg registriert.

Mit Bargeld und ohne Abo

Das nicht ganz überraschende Fazit: Die SBB besitzen mehr Daten über unsere Bewegungen mit dem öffentlichen Verkehr, als sie tatsächlich brauchen. Je digitaler wir unterwegs sind, desto transparenter werden unsere Reisen. Wer nur mit der SBB-App reist, ist ein offenes Buch. Für einen Überwacher werden diese Daten interessant, wenn er sie zum Beispiel mit Daten über den Gesundheitszustand oder die politische Überzeugung kombiniert. Wer sein Ticket mit Bargeld am Automaten löst – gemäss SBB ist dies mindestens noch bis ins Jahr 2035 möglich – und ohne Abo unterwegs ist, hinterlässt hingegen kaum eine Datenspur.

Ach ja, das Abo! Mittlerweile ist die Zugbegleiterin bis zu mir vorgedrungen. Ich strecke ihr mein Halbtax-Abo auf Papier hin, möglichst gelangweilt natürlich. Sie greift danach und schaut es sich an. Bange Sekunden vergehen. Sie reicht es zurück und … wünscht mir weiterhin eine gute Fahrt! Als sie weg ist, wandert ein Lächeln in mein Gesicht und mein Herz nimmt wieder seinen gewohnten Platz ein. ♦

von Lorenzo Vasella

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Lorenzo Vasella ist ehemaliger Journalist und arbeitet heute als Gemeindeverwalter. Er war unter den ersten seines Jahrgangs, die ihre Klassenarbeiten digital verfassten. Heute schreibt er seine Briefe gerne wieder von Hand.


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