Zwischen gut und gut gemeint
Wieso wir einen weisen Egoismus brauchen.
Der eine ist ein erfolgreicher Unternehmer, der andere hat sich vor drei Jahrzehnten von seinem gutbezahlten Job als Ingenieur verabschiedet, um sich mehr und mehr mit dem unnötigen Leiden auseinanderzusetzen. Alec Gagneux und Daniel Model im Zwiegespräch.
«DIE FREIEN»: Für wen stehen Sie beide jeden Morgen auf? Für sich oder für andere?
Daniel Model: Ich vertrete grundsätzlich die Kunst, ein Egoist zu sein. Das erscheint mir sehr wichtig, aber es ist eben eine Kunst, und deshalb sehr anspruchsvoll. Das heisst, ich muss nach mir selber schauen, als physische Voraussetzung meiner Gesundheit. Ansonsten würde ich – allein schon als Eigentümer einer Firma, die mit 4500 Mitarbeitern die Grösse einer Gemeinde hat – andere in Mitleidenschaft ziehen. Wenn ich also als Gemeindepräsident aufstehe und die Grundarbeiten bezüglich mir selber gemacht sind, kommt die Verantwortung, und dann sind es plötzlich doch die anderen, oder?
Alec Gagneux: Ich denke, es ist etwa 40 Prozent für andere und 60 für mich, wenn ich mit dem rechten Bein aufstehe. Wenn ich mit dem linken aufstehe, ist es umgekehrt. Und ich schätze auch den Egoismus. Aber es braucht einen weisen Egoismus. Diesen definiere ich nach Mani Matter: «Dene wos guet geit, giengs besser – Giengs dene besser wos weniger guet geit.» Mir kann es also nur gut gehen, wenn es den anderen auch gut geht. Eines meiner Hauptanliegen ist der Hunger: Es verhungern etwa 50 Millionen Menschen pro Jahr – das ist kein Thema, interessiert niemanden. Es gibt keine UNO-Versammlung, die sagt: Jetzt brauchen wir mal 200 Milliarden sogenanntes «Sondervermögen»! Aber gleichzeitig haben wir jetzt 100 Milliarden «Sondervermögen» für Rüstung und nennen das «ein Hilfspaket für die Ukraine». Somit frage ich mich, manchmal schon vor dem Aufstehen: Wo könnte man eigentlich einen Hebel ansetzen, damit es den anderen auch besser geht? Damit es auch mir wieder besser geht? Das sind so die indirekt egoistischen Komponenten. Ich habe lange im buddhistischen Kontext gelebt und dort ist eigentlich die Motivation wichtiger als die Tat selber. Ich schwebe also immer zwischen Altruismus und Egoismus. Allerdings ist beim Egoismus die Voraussetzung für mich, keinen Schaden für andere auszulösen. Und das ist auch schon schwierig.
Zumindest einen «Hebel» scheinen Sie darin gefunden zu haben, dass Sie seit 2019 Ihr Sommer-«WEFF» (Sinnvolles Wachstum für Erde, Frieden und Freiheit) in Davos veranstalten – quasi eine Gegenveranstaltung zum Winter-WEF. Haben Sie schon mal daran gedacht, Klaus Schwab einzuladen?
AG: Ich spreche mit jedem, auch mit Herrn Schwab. Ich finde es wirklich wichtig, dass wir eine Kultur haben, in der wir fähig sein müssen, mit jedem zu sprechen. Mit jedem. Das bedeutet auch mit einem absoluten Terroristen. Wir müssen an einem Tisch sitzen können und verhandeln. Wenn wir das nicht können, sterben weiterhin Millionen von Menschen.
Entspräche dies auch dem W in «WEFF» – Ihrer Intention eines sinnvollen Wachstums?
AG: Ich habe mir überlegt, ob ich beim W «Wahrheit» schreiben sollte und habe es dann gelassen. Das stösst viele Leute ab, die sagen dann: Der meint, er wisse alles. Das meine ich überhaupt nicht, aber ich suche trotzdem die Wahrheit. Deshalb kommt eben das «Sinnvolle» dazu. Denn wenn das Leben keinen Sinn macht, dann kann man es auch sein lassen. Mit Wachstum ist auch das geistige Wachstum gemeint, aber das muss ich nicht jedem sagen.
Lynn Margulis zeigte 1998 in «Der symbiotische Planet» auf, dass sich mehrzelliges, «höheres» Leben vor Milliarden Jahren nicht allein aufgrund von Mutation und Selektion, sondern vor allem durch Vereinigung und Symbiose entwickeln konnte und brachte damit Darwins Paradigma des «Survival of the fittest» ins Wanken. Wenn es nicht der Egoismus war, sondern die Kooperation, die uns zum Menschen werden lassen hat – warum wird unser Leben dann von diesem «Kampf ums Dasein» dominiert?
DM: Ich glaube, wir haben so einen Kurs bekommen von der Natur, von der Schöpfung. Aus dieser Veranlagung können wir Glück oder Probleme schaffen. Das ist ja das Spannende: Dass es dann eben doch am Individuum liegt, wie stark es sich in einer Beziehung einbringt oder wie sehr es aufs Destruktive Wert legt. Die Freiheit ist ein unglaublich hoher Anspruch, der auch nur mit einem ganz hohen Preis zu bezahlen ist. Deshalb dürfen wir nicht daran verzweifeln, dass die Menschen auch daran scheitern können.
AG: Ich habe von Anfang an gemerkt, dass es mir in der Entwicklungszusammenarbeit nicht reicht, nur «gut» und «gut gemeint» unterwegs zu sein. Gut gemeint bedeutet einfach zu häufig schlecht. Das sieht man bei unserem Sozialsystem: Die Leute werden abhängig von der Welthungerhilfe, die Armut geht hoch wie noch nie und der Hunger hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt! Da zähle ich auch das World Economic Forum mit rein. Seitdem die sich vor 50 Jahren «Improving the State of the World» auf die Fahnen geschrieben haben, nehmen die Fischbestände ab und der Hunger zu. Diese Ideologie ist für mich eine Konkurserklärung. Deshalb wünsche ich mir ein Wirtschaftssystem, das anders misst. Erst dann kann ich mir vorstellen, dass die Ziele der Agenda 2030 so weit erreicht werden können, dass das Leiden abnimmt und diejenigen, die jetzt davon profitieren, nicht mehr profitieren. Ich denke, wir müssen wegkommen von einer Konkurrenzwirtschaft zu einer – und das ist nicht einfach, es ist ein bisschen ein Traum – kooperativen Menschheitsfamilie.
DM: Das Wirtschaften ist eigentlich etwas Natürliches, das Problem ist, was der Mensch daraus gemacht hat. Mit dem Fractional Banking System hat er die Wirtschaft so gehebelt, dass die Finanzseite die Realwirtschaft völlig verlassen hat. Das ist ja aus wirtschaftlicher Sicht das ganz Schlimme: Wenn Sie das Geld einfach so aus dem Nichts machen, bezahlen Sie plötzlich kulturelle Preise, Preise der Degeneration. Ich habe aber schnell gemerkt, dass sie unsere Kultur als solche nicht angreifen können. Kultur heisst schliesslich immer: Wie gehen wir eigentlich miteinander um, wenn wir uns begegnen? Deshalb möchte ich an dieser Stelle die Marktwirtschaft in Schutz nehmen. Denn das ist eine Veranstaltung, eine soziale, die entsteht, wenn niemand befiehlt, was entstehen soll.
AG: Ich empfinde eine gesunde Konkurrenz ebenfalls nicht als Problem. Aber wir leben ja nicht in einer freien Marktwirtschaft, auch nicht in einer sozialen Marktwirtschaft. Wir leben in einem Monopoly, wo die Grossen entscheiden, in welche Richtung es geht. Der Plan vom WEF lautet: «You will own nothing and you will be happy.» Wenn das eintritt, ist der Markt weg. Wenn wir uns das, was täglich die Drohne liefert, nicht mehr aussuchen können, weil es schon vorgegeben ist, dann gibt es keine Konkurrenz mehr, dann ist es nicht Kapitalismus, sondern eine Marktdiktatur.
Und da sind wir wieder bei der Unterscheidung von «Gut» und «Gut gemeint». Denn auch wenn Sie, Herr Model, sagen, der Staat könne nicht über unsere «Betriebskultur» verfügen, mussten wir in den letzten zweieinhalb Jahren erleben, dass er es eben doch kann: Sobald die staatliche Moralkeule geschwungen wird, verfällt die Gesellschaft in eine sozialistisch-totalitäre Kollektivmoral. Es entsteht ein Druck, der von Solidarität zeugen soll, aber kann man diese überhaupt befehlen?
DM: Warum ich bei Solidarität zusammenzucke, erklärt sich aus meiner Lebenserfahrung heraus: Diese hat gezeigt, dass in neun von zehn Fällen, wer Solidarität schreit, eigentlich auf Kosten desjenigen leben möchte, von dem er Solidarität verlangt. Da hat der Begriff eine Entwertung durch die Praxis erfahren. Du musst jetzt solidarisch sein! Und dann? Dann bin ich unter Zwang gesetzt. Man kann über den Zwang doch nicht Tugend generieren. Und trotzdem ist es das, was seit Jahrzehnten passiert. Und da frage ich mich: Wie konnten wir in so eine Degenerationsdynamik hineingeraten? Unsere Debattenräume haben sich ja nicht nur verengt – es gibt sie nicht mehr. Entweder ist man Klimaleugner oder – und das ist für mich wirklich das Allergrösste – Putinversteher. Ausgerechnet das Verstehen mit einem negativen Attribut zu belegen – das darf einfach nicht sein. Aber vielleicht kann diese Spirale jetzt durchbrochen werden: durch Helden und heldenhafte Taten. Mir ist aufgefallen, dass Helden in unserer Gesellschaft nicht mehr vorkommen, die sind nicht erlaubt, oder? Der Sozialismus will schliesslich auch keine Helden. Und vielleicht steckt dort eine Antwort: Dass wir Helden brauchen, die hinstehen und dadurch – vielleicht auch erst post mortem – ein Umdenken bewirken. Die Frage ist ja: Wie können wir diese Moralkeule drehen und in eine gute Debatte verwandeln? Ich habe zwar das Mittel nicht, aber ich glaube, wir kommen nicht darum herum, etwas zu leiden. Denn erst im Schmerz gibt es – im buddhistischen Sinne – eine Metamorphose hin in die Weisheit.
AG: Das Leiden ist ein zentrales Element, das halt mit Hollywoodfilmen unterdrückt wird. Dadurch, dass wir beim Leiden nicht genug hinschauen, entstehen Sucht und Verdrängung. Somit können wir nicht genau analysieren, was die Ursachen des Leidens sind, sondern bear-beiten die Symptome. Entweder lieben wir alle Wesen oder dann lassen wir es gleich bleiben. Schlachthäuser wären ja auch mal ein Thema. Schaust du auf Wikipedia nach, dann ist es interessant, dass Solidarität für Gleichgesinnte gemeint ist – eine «Solidargemeinschaft». Damit sind Leute gemeint, die ich kenne, meine Freunde. Ich dagegen versuche diesen Begriff inflationär zu gebrauchen und zu sagen: Nein, es geht eigentlich ums Ganze, um die gesamte Menschheitsfamilie. Wir können nur solidarisch sein, wenn wir das Herz öffnen und sagen: Wo ist das Leiden? Wie können wir der Spaltung entgegentreten und wieder anfangen, Brücken zu bauen? Wenn wir die Ursachen des Leidens nicht verstehen, können wir auch keine echte Entwicklungszusammenarbeit betreiben. Dann leisten wir nur noch humanitäre Hilfe, die sich als «nachhaltige Entwicklung» bezeichnet – die Hilfe zur Selbsthilfe geht komplett verloren. Das ist natürlich ein Businessmodell mit Wachstumspotenzial. Das Hauptinteresse des Internationalen Roten Kreuzes müsste sein, dass es keine Kriege mehr gibt, aber dann wäre natürlich das IKRK obsolet, was ja eigentlich seine Motivation sein müsste. Meine Motivation ist, dass es keine Entwicklungshilfe mehr braucht. Ich möchte mich in Projekten so schnell wie möglich arbeitslos machen.
Es scheint nicht nur das Geld vom Goldstandard entkoppelt zu sein, sondern auch der Mensch und seine «Realwirtschaft» vom Leben als solchem. Wie hören wir auf, destruktiv zu sein, und werden stattdessen wieder Teil eines natürlichen, gesunden Kreislaufs?
AG: Dazu braucht es drei Elemente: Ein gerechtes Wirtschaftssystem, das die Bedürfnisse der Menschen erfüllt, eine freiwillige Familienplanung, sodass keine Frau ungewollte Schwangerschaften erleiden muss – es gibt jedes Jahr 90 Millionen ungewollte Schwangerschaften –, und eine andere, nicht zentralistische Energiezufuhr! Die Abhängigkeiten sollten abnehmen und die Familien sollten weniger erpressbar sein. Beispiel Solarenergie: Was nützt es, wenn ich eine grosse Solaranlage besitze, wenn das zentralistische Netz zusammenbricht? Ich muss also in mehr Unabhängigkeit investieren. Dafür erhalte ich kaum Subventionen. Und das wird absichtlich so gesteuert. Die grossen Anlagen kriegen viel mehr Subventionen: Small is beautiful – big is subsidized! Deshalb gehe ich hier sogar in eine libertäre Richtung: Subventionen müsste man abschaffen, weil der Schaden grösser ist als der Nutzen. Beispielsweise in der Landwirtschaft: Der Bauer ist von mir aus gesehen der wichtigste Wirtschaftsakteur, den es überhaupt gibt. Er produziert nämlich unsere Nahrung – das ist auch Energie –, und wenn sie naturnah ist, sind es sogar Lebensmittel. Aber der Grossteil der Subventionen fliesst zu Grosskonzernen wie Migros, Emmy usw., und die kleinen Bauern sind so hoch verschuldet wie noch nie. Aber wenn die Bauern verschuldet sind, dann sind sie erpressbar und machen das, was Monsanto will.
DM: Es fragt sich: Wie funktionieren diese grossen Firmen? Das Schlimmste für uns Libertäre ist, wenn die Big Corporates mit Big Governance zusammentreffen – dann wird es ganz, ganz gefährlich. Ein berühmter Spruch von Lord Acton sagt: «Macht korrumpiert und viel Macht korrumpiert eben stark.»
AG: Ich bin mir sicher, die leiden mehr als wir. Deshalb machen sie so viel Blödsinn, produzieren so viel Krieg, Spaltung und Elend. Das sind keine Zufälle. Das sind Traumata, die von Generation zu Generation wuchern. Und gerade deshalb ist es so wichtig, die positive Energie – die Empathie – auch für diese Leute zu entwickeln. Für mich ist das eine spirituelle Geschichte. Ich sage einfach: Ich möchte meinen Reichtum auf echter, realer Arbeit aufbauen, die möglichst wenig Leiden erzeugt. Dann schlafe ich auch gut, stehe mit dem richtigen Bein auf und kann mich des Lebens freuen.
DM: Das ist interessant, was Sie ansprechen: Eigentlich gibt es eine implizite Gerechtigkeit, die aber heute – weil alles immer direkt materiell ausgeglichen werden muss – nicht mehr gesehen wird. Über dieses Gesetz des Ausgleichs, welches ja im Karmagedanken und der Reinkarnation verankert ist, habe ich erst kürzlich einen Vortrag von Peter Sloterdijk gesehen. In diesem hat er mir etwas ins Bewusstsein gebracht: «Die Thymotische Kraft». Sloterdijk sagt, Thymos sei – als eine noch grössere Kraft als Eros – das Bewusstsein von uns Menschen, und sobald wir uns des Menschseins gewahr werden, wird uns auch gewahr, dass wir am Kosmos teilhaben. Laut Sloterdijk haben wir aber unsere Thymotische Kraft verloren. Wir sind Beschenkte, haben aber verlernt, uns dessen bewusst zu sein. Das sei Teil unserer Degenerationserscheinung, die sich aber irgendwann umkehre, weil Thymos eben eine Urkraft sei. Das heisst – und das ist jetzt vielleicht eine tröstende Schlussbemerkung –, wir können als Menschen gesellschaftlich nicht unter ein gewisses Niveau sinken, weil diese Thymotische Kraft einfach nicht wegzudenken ist. Sie ist da, und vielleicht nehmen wir sie als Anlass, die menschliche Entwicklung wieder als eine Wellenentwicklung zu betrachten. Vielleicht wird alles erst noch etwas schlimmer, aber schliesslich wird diese Bankrotterklärung der Anfang eines neuen Auferstehens sein. Da bin ich irgendwie sehr, sehr zuversichtlich. ♦
von Lilly Gebert
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