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«Heilig, heilig, heilig»

Eine Predigt

Erhitze dich nicht über die Übeltäter, ereifere dich nicht über die, die Unrecht tun. Denn schnell wie das Gras verwelken sie, und wie grünes Kraut verdorren sie. Vertraue dem Herrn und tue das Gute, bleibe im Land und bewahre die Treue.

Freue dich des Herrn, und er wird dir geben, was dein Herz begehrt. Befiehl dem Herrn deinen Weg und vertraue auf ihn, er wird es vollbringen. …

Die Rettung der Gerechten kommt vom Herrn, er ist ihre Zuflucht in der Zeit der Not. Der Herr steht ihnen bei und rettet sie, vor den Frevlern rettet er sie und hilft ihnen, denn sie suchen Zuflucht bei ihm.

So lauten die Anfangs- und die Schlussverse von Psalm 37. Die Rettung kommt vom Herrn, vom Gott mit Namen Jahwe, von Adonai, wie man auf Hebräisch auch sagen kann. Die Rettung also kommt von Gott, der viele Namen hat. An einer anderen Stelle im Alten Testament, beim Propheten Jesaja, rufen die Engel gar: Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen! (Jes 6,3). Hier hat Gott, als Anführer der Heerscharen, sogar eine allmächtige militärische Aufgabe. Ich will heute aber weniger über die vielen Namen und Aufgaben von Gott reden, sondern vor allem über das Heilige.

Was ist heilig? Das Wort tönt fast wie aus einer anderen Welt. Und das ist es irgendwie auch. Das Heilige ist immer etwas, das auf spezielle Art losgelöst ist von dem, was direkt vor uns in der Welt ist, direkt und unmittelbar und greifbar und fassbar und berechenbar und kontrollierbar. Heiliges ist immer auch ein wenig gefährlich.

Diesen Sommer machte ich eine Studienreise ins Heilige Land. Also nach Israel-Palästina. Auch in dieser Zeit gab es dort einige Eskalationen und viele Proteste. Aber ich fühlte mich keine Sekunde lang unsicher. Das Gefährliche an Israel, so dünkte es mich, ist nicht die situative Lebens-Gefahr für das Individuum – sondern das Gefährliche ist das Heilige selber gewesen. Diese Heiligkeit, die drei Weltreligionen mit diesem Land und mit der Stadt Jerusalem verbindet. In Jerusalem steht die Klagemauer, der wichtigste religiöse Ort des heutigen Judentums. In Jerusalem steht auf Golgota die Grabkirche, ein wichtiger Ort der Christentumgeschichte. Und in Jerusalem steht auf dem Tempelberg der muslimische Felsendom mit seiner berühmten Goldkuppel. In allen drei Religionen wird an den genau gleichen Gott geglaubt. Aber die drei Religionen haben es bis heute nicht fertiggebracht, in Frieden miteinander zu leben. Warum nicht?

Ich kam in den letzten Wochen zum Schluss, dass es damit zu tun hat, dass Dinge als heilig betrachtet werden, die eigentlich nur menschlich sind. Es geht um Besitzansprüche, Wahrheitsansprüche und Herrschaftsansprüche. Es sind Menschen, die Besitz, Wahrheit und Herrschaft für sich beanspruchen, und sie legen diesen Ansprüchen dann mit viel Brimborium respektive Propaganda ein göttliches Mänteli an. Dabei ist es doch so, dass Besitz, Wahrheit und Herrschaft eigentlich nur einem gehören, nämlich Gott, dem Allmächtigen.

Gott, der Allmächtige. So steht es in unserer Bundesverfassung. In der Verfassung, die in den letzten Jahren auch quasi den Status einer Heiligen Schrift erhielt, die viele echte und falsche Freunde fand. «Heilig, heilig, heilig» riefen die Engel bei Jesaja. «Heilig, heilig, heilig» riefen Politikerinnen und Wissenschaftler in den letzten drei Jahren, und meinten immer wieder etwas anderes damit. Aber in meiner Wahrnehmung immer nur Menschliches: Unsere Mission ist heilig, unsere Interpretation ist heilig, unsere Massnahmen sind heilig – aber eure Fragen sind unheilig, also gefährlich und hetzerisch und ketzerisch. In einem kriegsähnlichen Zustand wurde mit Wortkanonen aufeinander geschossen. Ich verwende das Wort «Krieg» absichtlich. Die eingesetzte Rhetorik war nichts anderes als Kriegsrhetorik. Es ist bekanntlich ein Prinzip der Kriegspropaganda, dass man die eigenen Interessen als heilig darstellt und die Interessen der anderen als unheilig, als verwerflich, unmoralisch, unethisch, unmenschlich, verantwortungslos, radikal und so weiter.

Kommen uns solche Worte nicht bekannt vor? Ich habe bewusst nur die harmlosen Beispiele aufgezählt. Aber das reicht, um feststellen zu können: Sobald das Wort «heilig» auf menschliche Dinge angewendet wird, ist der Krieg, ist die Gewalt nicht mehr weit entfernt. Wer etwas als heilig erklärt, ist häufig zur äussersten Eskalation bereit, zu Gewalt und zu Terror.

Das sogenannt Heilige Land und die sogenannt Heilige Stadt geben Tausende von Beispielen. Wie viele Menschen haben sich nicht schon die Zähne ausgebissen an der Lösung der Israel-Palästina-Fragen. Es erinnert an die verfahrene Situation der Russland-Ukraine-Fragen. Auch hier ist die Antwort ja meistens: Heilig! Heilige Werte! Heiliger Krieg! Aber wer als Antwort «friedlich», «sachlich», «gewaltfrei» vorschlägt, wird verleumdet und medial weggebombt. – Auch das ist wieder ein heftiges Wortbild. Aber es ist leider Propaganda-Realität. Wer sich momentan mit der schweizerischen Sicherheitspolitik beschäftigt, hört eher Rufe nach Panzern, Aufrüstung und NATO statt nach Neutralität, Vermittlung und Deeskalation.

Und damit bin ich endlich beim Kern meiner Predigt angekommen. Bei der Friedensbotschaft, die in der Bibel steckt, beim Evangelium von Jesus Christus. Jesus ist der allergrösste Friedensmensch aller Zeiten. Er hat in der Bergpredigt gesagt: Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen (Mt 5,43 f.). Kurz darauf, als er die Jünger das Beten lehrte, sagte er: Dein Name werde geheiligt.

Ich verstehe Jesus so, dass nur der Name des Vaters heilig sein soll, also nur Gott. Es gibt keine gesellschaftliche Mission, die so heilig ist, dass sie Gewalt oder Hass oder Verurteilung rechtfertigen würde. Heilig ist Gott. Nur im Sinn eines Abbildes oder einer Partizipation kommt diese Heiligkeit dem Menschen zu. Im Alten Testament, im 3. Buch Moses, steht: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott (Lev 19,1). Im Neuen Testament wird diese Heiligkeit dann, sehr vereinfacht gesagt, vom Volk auf das Individuum übertragen. Jesus erkannte nämlich, dass der einzelne Mensch als Individuum im Zentrum steht, und nicht seine Ethnie oder sein Beruf oder sein Geschlecht. Das Individuum ist Empfänger von Heiligkeit. Nicht ein Buch, nicht ein Tempel, nicht die Kirche, nicht eine Verfassung. Nur Gott und der einzelne Mensch und die Beziehung zwischen ihnen können streng genommen als heilig gelten.

«Wir hören auf die Stimme des Herzens», heisst es so schön bei den Graswurzle-Werten. Das kann man biblisch so übersetzen: «Wir hören auf die heilige Stimme von Gott in unserem Herzen.» Es ist dann aber nicht mehr wichtig, ob man christlich ist, ob jüdisch, muslimisch oder sonst irgendein Etikettli trägt. Nach dem Evangelium müssen alle diese Etiketten überwunden werden, wenn wir eine friedliche Gemeinschaft werden wollen. Der Apostel Paulus schreibt im Brief an die Gemeinde der Galater: Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus (Gal 3,28).

Es ist eine solche Gemeinschaft, die wir über Gräben hinweg anstreben. Wenn es die Religionen bis heute nicht geschafft haben, in Jerusalem friedlich miteinander zu leben, dann auch deswegen, weil man Dinge für heilig hält, die eigentlich gar nicht heilig sind. Anders gesagt: Weil man nicht erkennt, woher alles Heil und woher alle Heiligkeit kommt.

Nur wer sich als Abbild des Heiligen sieht und so seine Beziehung zu Gott erkennt, findet die Zuflucht beim Herrn und die Rettung vor den Frevlern und die Heilung von allen Übeltaten auf Erden. Amen. ♦

von Philippe Schultheiss


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