
Ein neues Golgatha?
Das Ich als Widerstand gegen das Dämonische. Und seine Auflösung in der Liebe.
Muss unser Ich sterben, damit unsere Seele ihren Weg zurück zum Göttlichen findet? Oder bedeutet sein Tod als Untergang unserer Geistseele den Verlust unserer Abwehrkräfte gegen das Böse? Und damit die Bedrohung unserer Seele durch das nicht mehr Göttliche? Falls ja, hätte das Böse dann nicht bereits gewonnen, wären wir nicht einmal dazu in der Lage, es zu erkennen?
Worin besteht die wahre Natur des Ich? Diese Frage habe ich versucht, im ersten Teil («Impfung: Wie sie dein Ich zerstört») dieses kurzen Zweiteilers zu beantworten. Handelte dieser unter anderem davon, was das «Böse» der sogenannten «Impfung» mit unserer Seele und unserem Ich umtreibt, soll es in diesem Text darum gehen, worin dieses im Kern «Böse» besteht, wie es in uns wirkt und wie wir es daran hindern können, von uns Besitz zu ergreifen.
Das Ich nämlich ist weder Körper noch Seele, sondern Bewusstsein. Jean-Paul Sartre sah es als Prozess der Freiheit, im Vedanta ist es Atman, die unsterbliche Seele, die mit dem universellen Bewusstsein eins ist. Rudolf Steiner, um dessen Aussagen es in diesem Text gehen soll, verband es wiederum mit dem «Mysterium von Golgatha»: Durch Christi Opfer sei das Ich als geistiges Wesensglied des Menschen erwacht und ermöglichte Selbstreflexion und Freiheit. Was mich zur Frage führt: Warum macht der Mensch von dieser Freiheit nicht Gebrauch?
Ichlosigkeit im Mysterium von Golgatha
Geschichtlich betrachtet verstand Steiner unter dem Mysterium von Golgatha die Kreuzigung und Auferstehung Christi. Insofern er dessen Passion jedoch als einen Weg der totalen Hingabe und Selbstaufopferung verstand, betrachtete er seine Abfolge primär als kosmisches und spirituelles Ereignis, das weit über die historische Ebene hinausging. Denn insoweit vor dem Mysterium von Golgatha die Menschen noch stärker in einem gemeinschaftlichen – vorindividualistischen – Bewusstsein gelebt hätten, unter dem das Ich noch weitaus weniger ausgeprägt war, sei erst durch die «Ichüberwindung» Christi die Grundlage geschaffen worden, dass das Ich in seiner vollen Freiheit erwachen konnte. Sein Weg der Opferung sei ein spirituelles Vorbild für den Menschen, der durch Hingabe an das Göttliche und die Gemeinschaft sein egoistisches Ich transformieren und zu einem höheren, universellen Bewusstsein gelangen könne.
Dementsprechend sah Steiner im Mysterium von Golgatha eine Art Wendepunkt, in dem er die «Ichlosigkeit» Christi dahingehend transzendiert sah, als dass sein bewusstes Ich zurücktrat oder sich auflöste, um höhere spirituelle Wahrheiten oder initiierte Gemeinschaftserlebnisse zu ermöglichen. Aufgrund dessen wäre Ichlosigkeit laut Steiner auch kein endgültiger Zustand, sondern ein notwendiger Schritt, über das eigene Ich hinauszugehen und eine tiefere spirituelle Einheit mit der Welt und dem Göttlichen zu suchen. «Ichlosigkeit» wäre in diesem Kontext keine Selbstaufgabe, sondern die totale Hingabe an ein kosmisches Bewusstsein.
Luzifers Wolken
Was im Umkehrschluss nichts weiter bedeutet, als dass unsere «Menschheitsaufgabe» letztlich darin bestünde, «auf Christus zu blicken und seine Kraft in uns aufzunehmen, um so uns selbst und das Geistige in uns zu verwandeln». Und doch führe dieser Weg seiner «Ichtranszendenz» laut Steiner zu neuen, ungeahnten Problemen: Seit dem Mysterium von Golgatha kämen die luziferischen Geister nicht mehr in «regulärer Art» an den Menschen heran. Ihre Gedankenmacht sei seither «durcheinanderflutend» und «verschwommen» und umgäbe als «öffentliche Meinung» den Menschen wie eine Wolke. Dieser wiederum mache sich diese Verwirrtheit aus (noch) mangelndem Selbst-Bewusstsein zu seiner eigenen. Ungeahnt eingenommen vom Bösen, verdunkelt dieses seinen Geist und lässt den Menschen – die Interessen des Bösen mit seinem eigenen Willen verwechselnd – fortwährend mehr Leid in die Welt tragen.
Laut Steiner fördere man den Fortschritt der Erdenentwicklung folglich nicht, indem man die öffentliche Meinung verbessert und sich dabei verliert, sondern indem man sein Inneres verbessert. Es gehe darum, selbstständig zu denken und wahrzunehmen ohne Vorurteile. Darin bestünde der Königsweg: sich selbst als Geistwesen zu erleben. Und das in seine Persönlichkeit zu integrieren.
Ichlosigkeit: Angriff Sorats und der Asuras?
Leichter gesagt als getan. Denn so friedvoll und romantisch dieser Weg der «Ichtranszendenz» auch klingen mag: Warum gelingt er nicht? Warum scheint uns die Kraft Christi verwehrt und wir selbst dem Göttlichen gegenüber verschlossen? Die Antwort auf diese Fragen lauert im Bösen selbst. Lässt sich dessen Wirken im Menschen laut Steiner auf die vier Kräfte Luzifers, Ahrimans, Sorats und der Asuras zurückführen, bestünde ihre Aufgabe schliesslich in nichts Geringerem, als den Menschen in seiner Selbsterkenntnis aufzuhalten. Während Luzifer den Menschen durch Stolz, Illusionen und spirituelle Überhöhung beeinflusst und Ahriman ihn in Materialismus, Skeptizismus und reine Verstandesorientierung verstrickt, beschrieb Steiner die Asuras als Wesen, die – gefährlicher als Luzifer und Ahriman – in Zukunft direkt das Ich des Menschen angreifen werden. Gemeinsam mit Sorat würden sie dazu übergehen, das «Ich» des Menschen – oder zumindest das, was von ihm noch übrig ist – vollends zu zerstören.
Hierbei sei es Aufgabe der Asuras, dem Menschen seine Fähigkeit zur freien moralischen Entscheidung zu rauben. Sie führen dazu, dass das «Ich» nicht mehr eigenständig handeln kann, sondern von äusseren Kräften «besetzt» und zerlegt wird. Nachdem sie den Menschen auf diesen Pfad seiner eigenhändigen Entindividualisierung geführt hätten, sei es an Sorat, dem Sonnendämon, ein noch radikaleres Ziel zu verfolgen: die vollständige Entmenschlichung. Während Ahriman den Menschen an die Materie bindet, führt Sorat ihn ins vollständig Anti-Menschliche – in eine Welt ohne Liebe und Individualität, geprägt von reiner Gewalt. Sein Wirken zeigt sich in der zunehmenden Technisierung, der Mechanisierung des Lebens, der Reduzierung des Menschen auf eine Nummer in einem System und der vollständigen Kontrolle seines Bewusstseins als Ende seiner Freiheit. Innerhalb der Anthroposophie gilt Sorat deshalb auch als die höchste Widersachermacht, die direkt gegen den Christus-Impuls wirkt. Im Gegensatz zu Luzifer und Ahriman wirkt er nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich, indem er den Menschen dazu bringt, seine geistige Essenz aufzugeben oder auszulöschen.
Ein neues Golgatha?
Wie wir sehen, ist das Böse nicht nur eine abstrakte Idee, sondern eine reale geistige Kraft. Gleichzeitig muss unser Ich nicht sterben, um zum Göttlichen zurückzukehren. Es muss sich transzendieren, bevor es stirbt. Hat das Mysterium von Golgatha die Pforten unseres Bewusstseins letztlich nicht umsonst geöffnet – es genügt nicht, sich ihm inhaltlich zu nähern –, wir müssen genau dort ansetzen, wo es angreift: in uns selbst. Es liegt an uns, die Verbindung zwischen unserem individuellen Ich und der geistigen Welt zu ergreifen. Unsere Abwehrkräfte gegen das Böse speisen sich aus dieser Rückbesinnung.
Darum liegt die Stärkung unseres Ichs nicht in den Händen Gottes, sondern in der Macht jedes Einzelnen. Steiner betonte, dass bewusste spirituelle Entwicklung, innere Schulung und die Liebe als höchste geistige Kraft Schutz gegen die Asuras und Sorat bieten. Sie sind das letzte Bollwerk gegen Entmenschlichung und Gleichschaltung und damit die eigentliche Brandmauer gegen Sorat. Denn wo echte Liebe und spirituelles Bewusstsein sind, hat das Böse keine Macht. Die Liebe, als tiefstes Mitgefühl und Ausdruck echter sozialer Verantwortung, kennt schliesslich kein «Gut» und «Böse» mehr. Einmal in ihr angekommen, ist alles eins – und damit von gleichem Wert, geliebt zu werden.
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