Die Jupiters und die Ochsen
Mehr und mehr spielt sich der Westen als alternativlose moralische Weltinstanz auf. Niemand hat uns die herrschende Doppelmoral besser vor Augen geführt als Gianni Infantino, der amtierende FIFA-Präsident und ehemalige Hobbykicker beim FC Brig-Glis.
Wir sind im Zeitalter der Doppelmoral und der double standards angekommen oder wie ein lateinisches Zitat lautet: Quod licet Jovi non licet bovi (Was Jupiter darf, ist einem Ochsen nicht erlaubt). Die Jupiters der westlichen Elite treiben ihre Untertanen und den restlichen, nicht westlichen Teil der Welt vor sich her.
Es begann schon im letzten Jahrhundert. Die Absetzung von Mossadegh im Iran durch MI5 und CIA, um ans iranische Öl zu gelangen. Napalm und Agent Orange in Vietnam. Das chilenische 9/11 mit dem Putsch gegen Allende 1973. «500’000 tote Kinder waren es als Preis wert, das Embargo gegen den Irak durchzuziehen.» Das sagte die damalige US-Aussenministerin Madelaine Albright am 12. Mai 1996 einer konsternierten Journalistin Lesley Stahl. Das sind mehr Opfer als in Hiroshima!
1997 gründeten Rumsfeld, Cheney, Wolfowitz, Bolton und andere PNAC (Project of the New American Century – Rebuilding America’s Defense), um nach dem Kollaps der Sowjetunion für immer die Weltherrschaft der USA zu sichern. Das umfasste regime changes in diversen muslimischen Ländern. Die PNAC-Gründer sprachen davon, dass ein «neues Pearl Harbour» als grossartiger Katalysator wirken würde. Der «Event» kam schnell, angeblich dank Osama bin Laden und seinen 19 fluguntauglichen Teppichmessern. Das Gleitmittel, um Afghanistan in Schutt und Asche zu legen – und 20 Jahre später vor den Taliban zu kapitulieren und wie geprügelte Hunde davonzuschleichen.
Afghanistan war irgendwie doch die falsche Adresse – also ab in den Irak, liegt ja in der gleichen Region. Der Einsatz von depleted uranium schädigte unzählige Menschen, vor allem Kinder. Der Dokumentarfilmer und Autor Frieder Wagner hat in den Kinderkrankenhäusern des Iraks Bilder des Schreckens aufgenommen. Gemeinsam mit dem deutschen Arzt Siegwart-Horst Günther suchte er die verseuchten Kriegsschauplätze auf und berichtete über die Vertuschungsstrategien des Militärs, der Industrie und der Regierungen, aber auch der Medien. Der Film «Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra» (2003) war sein letzter öffentlich-rechtlicher Filmauftrag.
2006: Saddam ist gestürzt, die Demokratie importiert, also machen die US-Streitkräfte Platz, damit sich das demokratische Gebilde des IS entfalten kann. Die USA haben anderswo noch viel zu tun – Tunesien, Libyen. Nach der Ermordung Gaddafis lachte Hillary Clinton: «Wir kamen, wir schauten, er starb.» Als Sahnehäubchen obendrauf kam der Gaspipeline-Krieg in Syrien, gefolgt vom Maidan-Putsch. Und als Krönung der Friedensnobelpreis für den tausendfachen Drohnenmörder Obama.
Dennoch finden viele es immer noch legitim, dass der grosse «Demokratie- und Friedensexporteur» USA als hegemonialer Weltpolizist urteilen, richten (und vernichten?) darf.
Tango Korrupti auf dem Narrenschiff
Die EU dackelt den USA indessen brav hinterher und kommandiert ihre Bürger von einem hochkorrupten Narrenschiff aus – von Gesundheitsfragen bis zur Bargeldabschaffung (während man bei der EU-Vizepräsidentin und deren Handlanger sackweise Bargeld findet). Die von niemandem gewählte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält moralische Ansprachen. Wegen des Bundeswehr-Beraterskandals um McKinsey und Accenture wurde sie von der Spitze des deutschen Heeres nach Brüssel wegbefördert, wo sie offensichtlich juristisch in Sicherheit ist. Ihre privaten SMS an Pfizer-CEO Bourla hat sie schnellstens gelöscht, die Impfstoff-Verträge sind geschwärzt. Just auf dem Höhepunkt des EU-Korruptionsskandals fror die EU Milliardenzahlungen an Ungarn ein – angeblich, weil die Regierung Orban zu wenig gegen die Korruption unternehme … Welche Drogen braucht man, um solche Widersprüche tagtäglich aushalten zu können?
Eine staatsmännische Rede
Genau diese Verlogenheit und Heuchelei hat Infantino in seiner Rede dem über Katar hechelnden Westen vorgehalten. Es fehlte nur noch Gretas «How dare you?»: Wie könnt ausgerechnet Ihr es wagen, das muslimische Katar zu kritisieren, nachdem was Ihr in den letzten Jahren angerichtet habt und immer noch tut? Infantino sprach über die Arbeitsbedingungen der WM-Arbeiter, die eingeführten Versicherungen und Kompensationszahlungen – und auch darüber, wie wir Schweizer damals die Saisonniers behandelten, wie diese wohnen mussten, und wann der letzte Kanton das Frauenstimmrecht einführte. Oder darüber, welches Land bereit gewesen wäre, Hunderte von fussballspielenden und damit vom Tode bedrohte Mädchen und Frauen aus Afghanistan aufzunehmen nach der Machtwiederübernahme der Talibans – nämlich Katar. Man findet seine Rede unter dem Titel «FIFA President Press Conference».
Die Ver- und Aburteilung der FIFA
Die FIFA ist keine Sonntagsschule. Dass geschmiert wird, was das Zeug hält, dürfte eine Tatsache sein. Aber: Als Sepp Blatter 1998 Präsident wurde, stand die Firma mit leeren Kassen da. Heute ist sie eine finanziell prosperierende Organisation, die entgegen allen Unkenrufen auch Steuern abliefert: Im vorletzten WM-Jahr 2018 gingen 29 Millionen in Zürich an den Fiskus. Eindrücklich ist auch, was die FIFA ausserhalb der Kameras und Redaktionsstuben so unternimmt: Sie sorgt für Ernährung, Hygiene, Infrastrukturen und medizinische Betreuung – nicht nur in Doha, sondern in den hintersten Winkeln der Erde mit bekannten Fussballern als Botschafter vor Ort. Das scheint für die Mainstreammedien jedoch völlig uninteressant zu sein: An der Eröffnungspressekonferenz in Doha waren über 400 Journis anwesend. An einer Pressekonferenz, an der die FIFA über die Arbeitsbedingungen in Katar, die Schaffung von Sozialhilfefonds und Lohn- und Behindertenentschädigungen informierte, kamen – vier.
Die Doppelmoral-Weltmeister
Doch gemach, gemach … Auch ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich zu schnell urteile: Urteilen = im Ursprung teilen. Machen wir uns also ein möglichst perspektivenreiches Bild, bevor wir richten und urteilen. Audiatur et altera pars – auch die andere Seite anhören. Das haben doch gerade wir im Widerstand immer verlangt. Und es hat doch auch mit Respekt zu tun.
Apropos Respekt: Deutschlands Nationalmannschaft, die – wenig respektvoll – mit regenbogenfarbigem LGBTQ+-Flieger Richtung Katar flog, ist Doppelmoral-Weltmeister geworden! Dafür ist sie sang- und klanglos an der WM ausgeschieden. Regenbogen-Buntland ist abgebrannt. Der Trost: Die EM 2024 findet in Alemannia statt, sofern dann noch Energie für das Flutlicht vorhanden ist. Grünen-Co-Chef Omid Nouripour spricht sich jetzt schon dafür aus, dass die «EM politisch vorbereitet wird». Vielleicht spielen dann alle mit ganzen regenbogenfarbenen Leibchen und Höschen oder knien 90 Minuten mit der Hand vor dem Mund? Ich habe fertig, Flasche leer. ♦
von Marco Caimi
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