«Das Universum ist offen»

Interview mit Ronald Steckel

Autor und Regisseur Ronald Steckel macht deutlich, wie machtvoll der Einzelne ist und warum keine gesellschaftliche Veränderung, die sich nicht im Bewusstsein und im Austausch der Individuen dieser Gesellschaft verwirklicht, tragfähig und von Dauer ist.

Lilly Gebert: Lieber Ronald, was ist das Ziel menschlicher Individuation?

Ronald Steckel: Die «Idee» des Bewusstseins ist eine Begierde, ein Willen, ein Streben nach etwas: Selbsterkenntnis. Damit kann das Ziel menschlicher Individuation nichts anderes sein als Selbsterkenntnis – in der Selbsterkenntnis Gottes. «O du edler Mensch», schreibt Jacob Böhme, «wenn du dich kennetest, wer du bist, wie solltest du dich freuen.»

Hat der moderne Mensch sein Gefühl für die integralen Zusammenhänge verloren?

RS: Ich sehe nicht, dass der moderne Mensch überhaupt je ein Gefühl für die grossen Zusammenhänge hatte. Es ist noch nicht einmal sicher, dass der moderne Mensch ein Gefühl für den Raum hat, in dem er sich gerade befindet. Oder für den Menschen, der ihm gegenübersteht. Oder für seinen eigenen Leib. Zudem: «Integraler Zusammenhang» bezeichnet als Chiffre ein Mysterium, das wir nicht verstehen, es ist zu gross, um es zu «verstehen». Für die Annäherung an dieses Mysterium ist das Gefühl, die Empfindungskraft das stärkste und sensibelste Organ der Erkenntnis, über das wir verfügen. In diesem Zusammenhang sieht es für den neurasthenischen, nervlich überreizten modernen Menschen nicht gut aus. Die Kosmologien vieler indigener Kulturen erwecken eher den Eindruck, dass in ihnen ein Gefühl für das EINE und die «grosse Ordnung des Kosmos» noch lebendig ist.

Wie gelangen wir zurück auf die Empfindungstiefe, die Welt, die uns umgibt, als die Ganzheit wahrzunehmen, die in uns lebt und die wir selbst sind?

RS: Die Antwort liegt seit zweitausend Jahren vor: «Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Himmelreich nicht schauen.»

Das, was unseren Erfahrungen Farbe und Tiefe gibt, bezeichnest du als «innere Antennen». Sind diese angeboren oder können wir sie uns auch aneignen? Und wenn ja, wie?

RS: Natürlich gibt es Menschen, die mit ausserordentlich weit und tief ausgefächerten seelischen Antennen ausgestattet in diese Welt kommen. Und andere, die tumb sind, unempfindlich. Aber nichts muss so bleiben, wie es sich anfänglich darstellt: Ein seelisch Hochbegabter kann in seinen Lastern und Schwächen verkommen, ein anfänglich «tumber» Mensch kann zu liebevollster, erkennender Weisheit finden. Jeder von uns hat die Möglichkeit, sich durch sein Tun und sein Lassen seelisch selbst zu gestalten. Wir sind wahrlich wunderbare Wesen, und das Meer unserer Seelenkräfte, unserer Eigenschaften, unserer Sensoren ist in unaufhörlicher Dünung und kennt Ebbe und Flut. Entscheidend für das «mehr» oder «weniger» ist die Richtung des Willens: Welchem Attraktor folgt ein Mensch? Wohin zieht es ihn? Wohin will er? Empor? Hinab?

Was sind die Voraussetzungen für einen gesellschaftlichen «Aufwachprozess»?

RS: In den 60er- und 70er-Jahren konnte ich mir einen derartigen Prozess noch als friedliche Transformation vorstellen: mehr und mehr «wache» Menschen, die im Laufe der Zeit den gesellschaftlichen Körper schöner, fröhlicher und dankbarer werden lassen. Diese Vorstellung war erfrischend naiv und machte die Rechnung ohne die Wirtschaft. Aber dass das gesellschaftliche Niveau bestimmt wird von der «Arbeit an sich selbst», wie die Sufis den Prozess der inneren Evolution nennen, gilt nach wie vor. Der Spielraum nach oben ist zweifellos enorm. Auf keinen Fall wird ein «Aufwachen» des sozialen Körpers über eine Ideologie, eine Religion, eine Institution oder Ähnliches erfolgen. Vermutlich wird es, wie oft in der Geschichte, die Not sein, die Menschen aus ihren Lebensträumen erweckt.

Wo und vor allem wie muss man Menschen berühren, damit sie «aufwachen»? Steht es uns überhaupt zu, in den Integrationsprozess eines Menschen einzugreifen?

RS: Nein, das steht keinem Menschen zu. Das wäre – vor allem, wenn gewollt – schiere seelische Gewalt. Möglich ist aber, dass die schlichte Begegnung mit einem Menschen oder der Blick eines Menschen, die Stimme eines Menschen oder der Anblick eines Menschen als schicksalhafte «Berührung» erfahren wird. Absichtslos. Aber diese «erweckende» Berührung kann auch durch etwas ganz anderes ausgelöst werden als durch einen Menschen, durch etwas Gesehenes, Gehörtes oder Gefühltes: ein Stein, ein Licht, eine Landschaft, ein Regen in der Nacht, eine Schönheit, ein Schatten. Zudem: Das warme, atmende, lebendige Leben selber greift unaufhörlich, unablässig und unaufhaltsam in jeden menschlichen Integrationsprozess ein, von dem Moment, wo wir morgens die Augen aufschlagen, bis zur Nacht, bis in die Träume … wir existieren in einer kosmischen Werkstatt, durchkreuzt von allen Strahlungen des Kosmos, in der auf allen Ebenen, an allen Sinnen, unablässig an uns gearbeitet wird, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Wir sind wie lebendige, mehr oder minder bewusste Steine, die «behauen» werden, ohne zu wissen, wie ihnen geschieht – oder wie Steine, die den Bauplan erkennen und an der «Gestaltung» mitwirken. Wir, als Wunderwerke individueller bewusster Erlebnisfähigkeit, haben die Möglichkeit, unser Behauenwerden mit Sinn zu erfüllen oder es schlichtweg zu erleiden. «Wir haben das Centrum Naturæ in uns. Machen wir einen Engel aus uns, so sind wir das, machen wir einen Teufel aus uns, so sind wir das auch», sagt Böhme.

Was können wir tun, um «den Geschmack des Wachseins nie wieder zu vergessen»?

RS: Wir brauchen nichts zu tun, um diesen «Geschmack» nicht zu verlieren. Eine einzige Berührung aus der wirklichen Welt, aus der Welt der Ursachen, kann genügen, um in einem Menschen ein lebenslanges inneres, seelisches Wachstum auszulösen. Aber wovon ist eigentlich die Rede, wenn von «Wachsein» die Rede ist? In der philosophia perennis finden wir die Metapher des «schlafenden» und des «wachen» Menschen. Was ist damit gemeint? Wer oder was wird «wach»? Der Frage ist nur beizukommen, wenn man das Geheimnis des Menschen betrachtet: Zeit und Ewigkeit in einem Leib: Verschmolzen mit dem sterblichen Körper aus Fleisch lebt ein unsterblicher Leib aus Licht. Und wieder Böhme: «In allen Menschen liegt das Himmelsbild. Aber: Im einen lebts, im andern ist es unlebhaft.»

Wie realistisch ist die Vorstellung einer «heilen» Welt?

RS: Sie weist auf etwas sehr «Wirkliches» hin, etwas, das «wirklicher» ist als die von uns erfahrene und erlittene «Realität». In diesem Bild erscheint der Anamnesis eine andere Wirklichkeit, die wir in uns tragen und die ohne Zweifel mit unserem dramatischen kosmischen Geistes-Schicksal zu tun hat: dem Verlust des «Paradieses». Der US-amerikanische Dramatiker Thornton Wilder hat es in einem berühmten Satz formuliert: «Wir kommen aus einer Welt, in der wir unglaubliche Massstäbe der Vollkommenheit gekannt haben, und erinnern uns deutlich der Schönheiten, die wir nie festzuhalten vermochten, und kehren wieder in jene Welt zurück.» Die «heile» Welt ist ein Traum, eine Sehnsucht, eine Erinnerung unserer ewigen Seele. ♦

von Lilly Gebert

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Ronald Steckel ist Autor, Regisseur, Komponist und Multimediakünstler.


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