Auf der Frontlinie zwischen Gut und Böse
Wie soll man für den Frieden kämpfen? Darf die Verhinderung des Krieges zur Anwendung von Gewalt führen? Kann die Verteidigung der Gewaltlosigkeit sogar zum kriegerischen Kampf verpflichten? Wann verpflichtet das Gebot der Gewaltfreiheit zum Kampf? Und ist Abseitsstehen beim Kampf gegen das Böse in jedem Fall feige? Die Bhagavad Gita gibt Auskunft.
Friedfertigkeit ist eine Tugend. Die Summe aller Tugenden ist die Liebe. Liebe ist das göttliche Grundprinzip. Tugenden sind göttliche Eigenschaften. Mit jeder Tugend pflegen wir das Göttliche in uns. Das Göttliche ist unsere wahre Natur. Wir sind Geschöpfe Gottes. Unser Grundprinzip ist die Liebe. Leider befindet sich das Göttliche in uns in einem schlechten Zustand. Wie es dazu kam, ist eine sehr lange Geschichte. Diese beginnt vor der Entstehung unseres Universums, weit vor unserer Zeit, in der geistigen Welt. Davon berichten die alten Schriften. Davon berichtet die Genesis im ersten Buch Mose. Davon berichten die zoroastrischen Hymnen. Davon berichten Homers Epen. Davon berichtet das Sanskritepos Maha Bharata.
Das bekannteste Buch der über zweitausend Jahre alten Maha Bharata ist die Bhagavad Gita, der «Gesang des Erhabenen». Dieses poetische Werk handelt von der Tugend der Friedfertigkeit. Unter den altindischen Schriften ist die Bhagavad Gita die wichtigste und umfassendste Abhandlung über die Philosophie der Gewaltlosigkeit. Und sie ruft zum kriegerischen Kampf auf. Wie kann das sein? Liest man diese philosophische Schrift im Zusammenhang der Maha Bharata, beantwortet sie durch reine Logik die Fragen, wer wann, wie, unter welchen Umständen und mit welchen Mitteln zum kriegerischen Kampf verpflichtet ist und wer sich neutral oder passiv verhalten darf oder muss.
Dramatischer Höhepunkt
Die Bhagavad Gita beinhaltet im Wesentlichen eine Belehrung über die Philosophie der Gewaltlosigkeit aus dem Munde des hohen göttlichen Wesens Krishna. Die Lektion gilt dem jungen Bogenschützen Arjuna. Sie wird ihm erteilt auf dem noch grünen Schlachtfeld zwischen den beiden sich gegenüberstehenden Heeren, unmittelbar vor der Schlacht. Krishnas philosophische Unterweisung in Gewaltlosigkeit ist also literarisch kunstvoll eingebettet in einen Moment der Ruhe vor dem Sturm. Dieser hochdramatische Kontrast ist eine dramaturgische Meisterleistung und sagt einiges aus über die Bedeutung der Bhagavad Gita. Sie befindet sich im zentralen Schwebepunkt des Spannungsbogens über dem gesamten Epos Maha Bharata.
Dramaturgischer Kontrast
An diesem Punkt des Epos stehen sich zwei verschwisterte Clans im Krieg gegenüber. Auf der einen Seite stehen die Getreuen, welche das Gute bewahren, und auf der anderen die Abtrünnigen, welche die alte Ordnung zerstören, um eine neue zu schaffen. Arjuna führt die Guten an. Der göttliche Krishna dient dem tugendhaften, aber noch jungen Arjuna als Wagenlenker. Abgestützt auf die um einiges ältere vedische Schrift «Katha Upanishad» darf man diesen Dienst allegorisch verstehen. Krishna führt Arjuna geistig, indem er ihm hilft, seine Sinne – das sind die Pferde – durch das Bewusstsein – also die Zügel – zu lenken, damit sein urteilsfähiger Verstand – das ist der Wagenlenker – seinen Körper – also den Wagen – richtig durchs Leben führe.
Die Streitwagenallegorie
Auf Arjunas Bitte lenkt Krishna den Wagen zwischen die beiden sich gegenüberstehenden Heere. Allegorisch gesehen steht der grobstoffliche Körper nun auf der Frontlinie zwischen Gut und Böse. Die Schlacht hat noch nicht begonnen. Arjuna, dessen Bewusstsein noch von den grobstofflichen Sinnen beherrscht wird, beklagt, dass sich hier Verwandte, Freunde und Nachbarn in Feindschaft gegenüberstehen. Eher möchte er, der tugendhafte Held, sich kampflos ergeben und dem Feind unterwerfen, als zulassen, dass sich hier Brüder, Väter und Söhne gegenseitig auf dem Schlachtfeld töten. Er möchte lieber als Mönch im Wald meditieren oder als Gärtner den Garten pflegen, als hier diesen augenscheinlich so sinnlosen wie blutigen Kampf zu führen. Und er bittet Krishna um Belehrung.
Krishna ruft Arjuna in Erinnerung, dass er Krieger ist. In Friedenszeiten geniesst er die Freiheit, in Wald und Garten seine Reit- und Bogenschiesskünste zu üben, während die Mönche im Wald für ihn meditieren und die Gärtner für ihn den Garten pflegen. Aber jetzt ist diese friedliche Welt bedroht. Und während die anderen weiterhin meditieren und den Garten pflegen mögen, muss er, der Krieger, kämpfen, um die Freiheit der anderen zu verteidigen.
Daraus lernen wir immerhin schon mal, dass sich nicht immer alle zum Kampf verpflichtet fühlen müssen, sondern nur jene, die gerade «Krieger» sind und deren Pflicht es ist, die anderen zu verteidigen.
Die Lehre der Gewaltlosigkeit gebietet die Verteidigung der Schwachen
Der Kampf im Namen der Gewaltlosigkeit folgt dem Grundsatz, möglichst niemanden zu verletzen, nicht einmal den Gegner. Wenn ein Aggressor dich schlägt, weiche aus oder stecke ein, aber schlage nicht zurück. Im schlimmsten Fall wirst du getötet. Was soll´s? Du warst ein Vorbild für andere und wirst mit gutem Karma wiedergeboren.
Anders sieht es aus, wenn der Aggressor einen Schwächeren bedroht. Dann ist es deine Pflicht, dazwischenzugehen und anstelle des Schwächeren die Schläge einzustecken. In einem solchen Fall darfst du dich allerdings nicht mehr töten lassen, weil du dann einen Schwächeren schutzlos hinterlassen würdest. Hier beginnt die Selbstverteidigung. Sie dient nur als Schutzschild für Schwächere und darf nicht die Verletzung oder gar Tötung des Aggressors beabsichtigen. Um diese Anweisung zu verstehen, hilft eine Betrachtung des Aikido. Eine der Grundtechniken des Aikido besteht darin, die Angriffskraft so umzuleiten, dass der Angreifer durch seinen eigenen Schwung zu Fall kommt. Der Verteidiger setzt nur ein Minimum an Energie und damit keine Gewalt ein. Trotzdem kann sich der Angreifer verletzen, wenn seine Angriffsenergie gross genug ist. Je tödlicher die Angriffsenergie, desto gefährlicher für den Angreifer.
Auf eine moderne Verteidigungsarmee übertragen bedeutet das die Inkaufnahme toter oder verletzter Gegner im Fall eines potenziell tödlichen Angriffs. Bei der Landesverteidigung muss demnach die Verletzung oder gar Tötung fremder Truppen in Kauf genommen werden, sobald solche mit tödlichen Waffen eine Grenze überschreiten. Damit ist die Lehre der Bhagavad Gita natürlich bei Weitem nicht erschöpft. Aber dass unsere ehemalige Verteidigungsarmee mit den jüngsten Armeereformen zu einer potenziellen Interventionsarmee umgebaut wurde, zeigt, dass die Politik längst den Pfad der Tugend verlassen hat.
Etwas mehr Schrift- statt Aktenstudium würde guttun. Unser Zustand zeigt, wie weit wir uns von Gott entfernt haben. Der Weg zurück führt nur über Tugenden. Um dies zu verstehen, ist höhere Erkenntnis nötig. Denn wenn die Zügel mit den Pferden verwechselt werden, das heisst «wenn das Bewusstsein mit den Sinneseindrücken verwechselt wird, laufen die Sinne dahin wie Wildpferde». Die Folge ist, dass wir «Lust geniessen und Kummer erleiden» werden.
Aber wer nach höherer Erkenntnis sucht, wird sie finden, denn sie liegt weder in versiegelten Truhen vergraben noch hinter geheimen Türen verborgen, sondern offen in unzähligen Schriften vor uns. ♦
von Andreas Thiel
Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop.
Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.