Nicht zur Knechtschaft geboren
Niemand ist berechtigt, über andere Macht auszuüben und niemand muss sich beherrschen lassen. Zeit, sich endlich in die Selbstverantwortung zu stellen. Anders gesagt: Wann bekommt die Anarchie endlich ihre Chance?
Das Aber kommt in der Regel ziemlich schnell. Kaum breite ich vor meinem Gegenüber aus, dass ich gerne in einer anarchistischen Gesellschaft leben würde, stimmen mir zwar viele zu, ja, auch sie fänden das durchaus attraktiv, doch schon im nächsten Satz werden die Bedenken aufgezählt, und es sind immer dieselben: Ob das denn funktioniere könne, so ganz ohne Hierarchie, ohne den mindestens einen, der die Richtung vorgibt und alles zusammenhält? Würden wir nicht bald im totalen Chaos landen, in maximaler Desorientierung? Müssten wir nicht mit Gewaltexzessen rechnen, mit unkontrollierbaren Zuständen? Ich weise dann darauf hin, dass diesen Vermutungen ein ausgesprochen pessimistisches Menschenbild zugrunde liegt, das ich nicht teile. Worauf die meisten beschwichtigend antworten, nein, nein, das sei mitnichten abwertend gemeint, sondern nur realistisch.
Ich gebe zu, es ärgert mich gleichsam wie es mich traurig macht, dass die Fantasie der allermeisten nicht ausreicht, sich eine herrschaftsfreie Welt vorzustellen. Sie scheint noch weniger denkbar als jedwedes dystopische Atomkriegsszenario. Was erneut zeigt: Der Mensch als unheilvolles, destruktives Wesen hat landläufig eine weitaus höhere Plausibilität als der mündige, selbstverantwortliche Mensch. Ich lasse mich davon allerdings nicht beirren. Müsste man mir deshalb Naivität attestieren, eben weil ich daran glaube, dass der Mensch im Grunde gut ist? Es wäre natürlich unabdingbar, dass ich mit meiner Überzeugung richtig liege, wenn das mit dem Anarchismus klappen soll. Was nicht bedeutet, dass man rund um die Uhr der perfekte Mensch zu sein hat, am besten ausgestattet mit einem Heiligenschein. Aber auf ein offenes, gütiges Herz sollte schon Verlass sein.
Wozu aber Anarchie? Was verspreche ich mir davon? Bereits als Kind war ich allergisch gegen An- und Unterordnungen, wehrte mich, wenn Menschen mich anwiesen, wie ich etwas zu sagen oder zu tun hätte. So ist es bis heute geblieben. Was nicht bedeutet, dass ich mich nicht gerne von anderen inspirieren lasse, aber dieses Interesse muss von mir ausgehen und kann mir nicht aufgedrückt werden. Meine Neugierde treibt mich dazu, die Welt und die Menschen auf eigene Faust entdecken zu wollen; dabei erlebe ich mich selbstwirksam und eigeninitiativ. Ich suche nach niemandem, der mich anleitet, ich habe keine Sehnsucht nach einer Übermutter oder einer Vaterfigur. Keine Ahnung, warum ich so gestrickt bin, aber so ist es nun mal, und daher bin ich, wenn ich es richtig besehe, wie gebacken für das anarchistische Gesellschaftsmodell.
Freilich nicht nur ich allein – sind wir es nicht im Grunde alle? Es ist zwar auch unter Philosophen umstritten, ob der Mensch für die Freiheit gemacht ist, aber wenn man mich fragt, so bin ich überzeugt, dass niemand zu Sklaventum und Knechtschaft geboren ist. Und dass zugleich keiner berechtigt ist, sich über andere zu erheben und Macht auszuüben. Sicher braucht es in den ersten Lebensjahren Halt und Geborgenheit durch Bezugspersonen, die wiederum ihre Rolle nicht mit einer Machtposition verwechseln sollten. Die Würde des Menschen ist unantastbar, heisst es. Entwürdigt sich aber nicht der, der einem anderen die Herrschaft über sich zugesteht? Wie mündig kann er überhaupt noch werden, wenn er nur noch mit Anleitung durch Autoritätspersonen durchs Leben navigiert?
Tatsächlich muss man fragen, warum sich – vermeintlich – erwachsene Menschen überhaupt die Existenz von Macht- und damit Hierarchiestrukturen bieten lassen. Dazu ein Exkurs zu dem Philosophen Peter Sloterdijk, der im ersten Teil seiner Sphären-Trilogie die These aufstellte, Liebespaare neigten deshalb zur Symbiose, weil sie die pränatale Mutter-Kind-Dyade reproduzieren wollten. Zurück in den Uterus; die ewige Sehnsucht nach Rundumversorgung. Das scheint auch ganz allgemein ein Trend. Denn: Erwachsen sein ist anstrengend. Bietet sich daher die Möglichkeit, entlastet zu werden, lässt man sich, je nach Bequemlichkeitsneigung, gar zu gerne verführen. Die daraus entstehende Infantilisierung ist, so betrachtet, keine intellektuelle Kränkung, sondern vielmehr eine durchaus willkommene Entwicklung.
So war, erschütternd genug, während der sogenannten Pandemie zu beobachten, dass sich ein Grossteil der Bevölkerung gerne von der Politik dauerbemuttern und damit in einem Zustand halten liess, als sei gerade erst die Windel-Ära überwunden. Die Regierung spielte sich als Erziehungsberechtigte auf, die in alle Alltagsbelange reinredete, indem sie etwa dezidiert Anleitung gab zum Händewaschen und Waschlappengebrauch. Auch Netflix-Verbot wurde angedroht. Zuzüglich verbaler Strategien des Kleinhaltens: Aha-Regeln, Wir-Formeln und «Doppel- Wumms»-Beschwichtigungen. Es gab Widerstand dagegen, aber beschämenderweise nicht mehrheitlich.
Sollte ich also mein Faible für den Anarchismus begraben? In der Tat ist die Ausgangsposition, gesamtgesellschaftlich betrachtet, ausgesprochen miserabel. Die Bequemlichkeit, in der sich die meisten eingerichtet haben, ist offensichtlich nur schwer zu verlassen. Solange der Kapitalismus dominiert, werden ohnehin bevorzugt Konsumenten gezüchtet und keine selbstbestimmten Menschen. Ehe man die Trägheit überwindet, lässt man sich lieber beherrschen, das ist eben der Preis, den man zahlen muss. Dass die Gesellschaft damit in voraufklärerische Zeiten zurückfällt, sich also nicht aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit befreit, sondern sie vielmehr anstrebt, spielt einer Politik in die Hände, der jedes «Sapere aude» ein Dorn im Auge ist.
Angestrebt wird der 24/7-Trottel, um rechtfertigen zu können, warum der Bürger gelenkt, kontrolliert, bevormundet werden muss. Pädagogischer Terrorismus auf dem Siegeszug. Freiheit? Kann weg. Doch genau deshalb, auch wenn es paradox klingen mag, braucht es die Anarchie. Weil sie die einzige Chance ist, die Freiheit vor ihrem nahenden Tod zu retten. Denn klar ist auch: Die Demokratie ist dazu zu schwach, vor allem, weil Demokratie längst nur noch als Demokratiesimulation existiert.
von Sylvie-Sophie Schindler
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Sylvie-Sophie Schindler ist philosophisch und pädagogisch ausgebildet und hat über 1500 Kinder begleitet. Die Journalistin ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises und publiziert unter anderem bei der Weltwoche.
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