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Lebendig in Fülle wohnen

Wir haben unsere Begegnungsorte zerstört. Wer sich im Alltag nicht mehr sieht, verliert das Gespür für die Fülle, in der wir eigentlich leben könnten. Wenn Menschen gemeinsam wirken, entsteht nämlich manchmal etwas Magisches: Das Ganze wird mehr als die Summe seiner Teile.

Früher waren sie Teil des Alltags, die Begegnungsorte in der Waschküche, am Backhaus, beim Holzmachen, bei der Ernte. In unseren modernen Wohnformen endet unser Wohnraum an der Eingangstüre. Hinter hohen Thujenhecken versucht jeder, sein eigenes, kleines Paradies zu schaffen und verausgabt sich damit ganz schön. Besitz besitzt dich auch, will geputzt, geheizt, gewartet und bekümmert sein. Gleichzeitig Gärtner, Handwerker, Putzfrau und Installateur zu sein und alles auch noch allein zu finanzieren, das geht an die Energiereserven, vor allem bei steigenden Grundstücks- und Baupreisen. Wie könnte es anders funktionieren? Wenn wir uns die Frage stellen, wie zukunftsfähige Wohnformen aussehen könnten, dürfen wir neugierig in die Vergangenheit schauen, lernen und dann den Faden weiterspinnen, neu verknüpfen für Wohnträume, die sich leicht anfühlen, das Miteinander fördern und uns wieder in die Kraft bringen, statt Kraft zu kosten.


Werfen wir einen Blick zurück: Auf meinem Arbeitsweg gehe ich täglich an einer alten Bäckerei vorbei. Das Gebäude ist mit 500 Quadratmeter nur etwa doppelt so gross wie ein grosses Einfamilienhaus, hat es aber in sich: Im Erdgeschoss gab es einen Verkaufsraum, der direkt an die Backstube anschloss. Der zentrale Ofen beheizte das ganze Haus. Unmittelbar daneben: Lebensmittellager, Waschraum und eine Werkstatt. Neben dem Verkaufsraum befand sich der Wohnraum der Grosseltern. Im Stockwerk darüber wohnten die jungen Bäckersleute samt Kindern. Es gibt auch noch zwei Wohnungen, die vermietet wurden, sowie je ein Zimmer für Mägde und Knechte, die in der Bäckerei arbeiteten. Arbeitsweg: zehn Meter treppab. Entfernung zur Kinderbetreuung: zwei Schritte. Die Kinder sind Teil des Alltags, es ist immer jemand da, der Zeit hat. Die Kunden kommen direkt ins Haus. Veraltetes Konzept oder genialer Ansatz?

Ein Blick ins Heute: Zu Besuch im Gutensteiner Hof, einem Projekt der «Dorfschmiede Genossenschaft», die als Labor dient und sich an solchen gemeinschaftlichen Wohnformen orientiert. «Unsere Küche bräuchte nach der Baustelle dringend eine Grundreinigung – Aber putzen? Wer hat darauf schon Lust?», erzähle ich beim Mittagstisch und raufe mir die Haare. «Ich bin dabei! Ich brauch ohnehin Bewegung und muss nach der Computerarbeit den Kopf ordnen», meint Ferdinand, der mir gegenübersitzt. Er nimmt Veronika mit, die unglaublich ausdauernd beim Reinigen verschmutzter Fliesenfugen ist. «Mein neuer Dampfreiniger will endlich ausprobiert werden», meint Markus und steht lachend mit dem Profigerät auf der Matte. «Super, ich koch uns was und bring ein paar Bier mit», meint Oliver. Philip wirft seine Boxen an, legt Musik auf und schon gehts los! Nach wenigen Stunden erstrahlt die Küche in neuem Glanz, man kennt alle Neuigkeiten aus der Nachbarschaft und gemeinsam entsteht die Idee, die alten Fliesen grün zu streichen und der Küche damit neuen Pepp zu geben. Aus einer nervigen Pflicht wurde eine gemeinsame Aktion, die jeder als sinnvoll empfand, die unsere Verbindung stärkte, und aus der sich neue Ideen ergaben. Zustandekommen konnte der Putzzauber nur, weil sich Menschen begegnen, die unterschiedliche Potenziale mitbringen und sich austauschen. Treffpunkte im Alltag, egal ob zum Essen, Arbeiten, Werken oder Gärtnern, erzeugen Synergieeffekte. Wenn wir nach der Arbeit nur müde die Wohnungstüre schliessen, bleiben wir mit unseren Herausforderungen allein.

Geteilte Ressourcen und gemeinschaftlich genutzte Strukturen reduzieren im Idealfall den Aufwand für jeden Einzelnen. Natürlich birgt das auch Konfliktpotenzial. Man kann sich solchen Begegnungsräumen aber auch im Kleinen annähern! Neuartige Bauformen wie ein modulares Tiny House liefern die Möglichkeit, Flächen gemeinsam zu nutzen und gleichzeitig flexibel zu bleiben. Diese nachhaltigen Gebäude kommen ohne Beton aus, stehen auf Schraubfundamenten und können per Kran verhoben und auch wieder abtransportiert werden.

Was möglich ist – Erfolgsgeschichten

Hermine träumte schon lange von einem kleineren Zuhause, weniger Arbeit beim Putzen, mehr Nähe zur Natur. Aber sie wollte ihren geliebten Garten nicht verlassen und hatte alleine nicht die nötigen finanziellen Ressourcen. Als sie ihre Gedanken mit ihrem Sohn teilte, entstand eine gemeinsame Idee: Der Sohn übernimmt mit seiner Familie das Haus, bezahlt dafür das neue Zuhause der Mutter, statt einen grossen Kredit für ein neues Einfamilienhaus aufzunehmen, der auch ihn schon lange gedanklich belastet. Das neue Zuhause wird im geliebten Garten aufgestellt: Ein kleines Massivholzhaus von WOHNWAGON, autark versorgt mit minimalen Fixkosten und rein aus natürlichen Materialien gebaut. Die finanzielle Belastung für Hermine ist gering, dafür hat sie seither viel Zeit für die Enkelkinder.

Ein eigenes Grundstück zu kaufen erschien Michael und Sibylle nicht sinnvoll: Sie kochen zwar gerne, aber sind nicht die leidenschaftlichsten Gärtner. Aufgrund ihres Berufs bliebe ihnen wenig Zeit, ein grosses eigenes Haus überhaupt zu geniessen. Sie sprachen mit Freunden, denen es ähnlich ging: Der grosse Garten, das Haus, das Kochen – einfach anstrengend! Dann fällt ihnen ein: Warum tun wir uns nicht zusammen? Sie ergänzen das bestehende Haus mit einem Modulhaus, Michael und Sibylle pachten die Fläche. Arbeit in Haus und Garten kann seither geteilt werden. Sollte das Konzept zu irgendeinem Zeitpunkt nicht mehr passen, können die zwei Massivholzmodule einfach wieder rückgebaut und abtransportiert werden.

Mit meinem Unternehmen WOHNWAGON haben wir eine Grundstücksbörse ins Leben gerufen, damit sich Interessierte miteinander vernetzen können. In der Schweiz haben so Urs, Nici und Christina zusammengefunden, gemeinsam ein leerstehendes Baugrundstück gepachtet und erfolgreich ihr Wunschprojekt realisiert. In Österreich wird ein alter Vierkanthof in der Steiermark belebt, der mit modularen Holzhäusern zu einer lebendigen Nachbarschaft werden soll. Auch modulare Mehrfamilienhäuser sind bereits entstanden: Grössere Gebäude, die im Laufe unseres Lebens immer wieder unterschiedliche Nutzungsarten zulassen. Solange ich Platz als Familie brauche, bewohne ich 100 der insgesamt 200 bis 500 Quadratmeter grossen Fläche – wenn die Kinder ausziehen, kann ich diesen Gebäudeteil vermieten. Erinnert an die alte Bäckerei? Kein Zufall! Wir können viel von unseren Vorfahren lernen und von ihnen die Elemente übernehmen, die für unsere neue Zeit dienlich sind. Trauen wir uns, uns gemeinsam zu erinnern und mutig einen Blick in die Zukunft zu werfen!

von Theresa Mai 

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Theresa Mai ist Geschäftsführerin und Mitgründerin von WOHNWAGONwohnwagon.at


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