Hinaufgestürzt

An meine ehemaligen Vorgesetzten:

Ihr standet eines Nachmittags unangekündigt im Türrahmen zu meinem Schulzimmer, einen Brief in der Hand; den letzten in der Reihe eurer Briefe an mich. Mit ernster, doch verunsicherter Miene tratet ihr an mich heran. Robert wechselte von einem Fuss auf den anderen, als hätte er sein Gleichgewicht auszutarieren, Katharina stand breitbeiniger als üblich und mit verschränkten Armen da. Den Brief legtet ihr mir offen hin und batet mich, ihn in eurer Anwesenheit zu lesen. Damit verschloss sich mir die Tür zu meinem kleinen Reich für immer.

Es war die Tür zu einer Welt, in der alle als Glieder in eine Kette verhängnisvoller Abhängigkeiten eingebunden sind. Aus dieser Kette wurde ich entfernt – durch euch! Nicht wissend, welches Glück mir damit zuteil wurde, war ich gezwungen, mich abseits des Gewöhnlichen zurechtzufinden. Da war plötzlich Raum für die grosse Krise, die Krise, die ich mir ein Leben lang nicht gegönnt hatte. Endlich durfte ich mal falsch, schlecht, daneben sein. Jetzt musste ich mir keine Mühe mehr geben, als zurechtgeschnittenes Puzzleteil in ein Bild zu passen, das mit dem Label «Gutmensch» versehen ist.

Ich stand auf der Aussenseite, unerwartet und ungeübt. Vor den Kopf geschlagen, kochte ich erst vor Wut; wie mir später bewusst wurde, vor allem deshalb, weil ich diese Entscheidung nicht selbst getroffen hatte. Vermutlich hätte ich den Absprung so nicht gewagt; das hätte ich wohl ohne euer Dazutun nicht geschafft. Ohne eure Hilfe, eure Intoleranz, eure Unfähigkeit, mit einer Vielfalt an Ansichten umzugehen, wäre ich nicht da, wo ich nun bin. Es war das Wachrütteln eines schlafenden Potenzials, das Kofferpacken für die grösste Reise im Leben. Eine andere Welt! Eine Welt, in der ich Freiheit atme und in der die Freude navigiert. Doch am Anfang war da die Angst vor dem Unbekannten. Die Leere, die sich breit machte, nahm mir jeglichen Sinn für Orientierung. Oft war ich kurz davor, den Koffer wieder abzustellen, spielte mit dem Gedanken, umzukehren und mich wieder in die bekannten Strukturen einzugliedern. Wie beruhigend und bequem war doch der Mantel des Staates …

Der Übergang in die Freiheit war schmerzhaft. Das Gefühl der Ablehnung begleitete mich noch lange, und die immer gleichen Fragen besetzten mein Denken: Mich arbeitslos melden oder auf einem Bauernhof Kühe melken? Für mich wäre das eine Option, aber da sind noch zwei schulpflichtige Kinder, für die ich aufkommen muss. Mich selbst neu erfinden, aber als was denn? Blind auf alle Stelleninserate bewerben im Wissen, dass ich da nicht hingehöre? Im dicken Nebel des Zweifels suchte ich nach einem Wegweiser, bis ich merkte: Das, wonach ich suche, ist in mir. Welche Reise mir bestimmt ist, enthüllt sich erst, wenn ich vertraue – mir selbst und dem Leben. Das Leben führt mich immer wieder an die richtigen Orte, ich muss es bloss erkennen und mich darauf einlassen. Wo ich das Ziel nicht kenne, kann sich Freiheit erst entfalten. Und wahrlich, die Welt der Freiheit ist eine andere! Sie ist durchlässig, durchsichtig und doch da. Erfahrbar ist sie für jene, die es wagen, zu ihr aufzubrechen. Als Kompass dient die Vorstellungskraft, denn mit Vernunft allein ist die Freiheit nicht zu finden. Und meine Reise zur Freiheit hat auf der Schwelle zur Schulzimmertür ihren Anfang genommen. ♦


von Prisca Würgler
Credit (Bild): pexels.com – Tetyana Kovyrina


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