Briefwechsel mit Hanspeter Büchi
Betreff: Wann ist die rote Linie im Nahen Osten überschritten?
Lieber Herr Büchi
Seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel und ihrem Massaker dreht sich die Gewaltspirale immer weiter. Die politisch chronisch instabile Region droht zu explodieren. Kürzlich sind israelische Bodentruppen in libanesisches Gebiet eingedrungen, woraufhin der Iran Israel beschossen hat. Die Sicherheit Israels bedeutet für Deutschland, um die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sinngemäss zu zitieren, «Staatsräson». Nun ist nicht klar, was das genau bedeutet, ausser uneingeschränkte Solidarität und Waffenlieferungen. Offenbar beinhaltet das auch, die israelische Regierung nicht mehr kritisieren zu dürfen – rasch wird die Antisemitismus-Keule als Totschlagargument eingesetzt. Sind das offizielle Deutschland und die meisten Medien aufgrund der vergangenen Verbrechen an den Juden im Zweiten Weltkrieg und Merkels Israel-Doktrin blind gegenüber der Realität geworden?
Viele Staaten bewerten das Vorgehen Israels in der Region mittlerweile kritisch, Südafrika hat im vergangenen Jahr eine Völkermord-Klage lanciert. Über 30 Staaten sind daran beteiligt. Wenn Deutschland, das im 20. Jahrhundert mit dem Holocaust einen Völkermord zu verantworten hat, an seiner Staatsräson festhält, könnte es dazu kommen, dass es eines Tages einsehen muss, einen weiteren Völkermord zumindest gebilligt zu haben – weil man aus lauter historischer Schuld bei allem wegsieht, was die israelische Regierung macht und ihr Waffen und Munition aus deutscher Fabrikation liefert. Rechtfertigt eine historische Schuld das Ignorieren der zahlreichen Verbrechen der israelischen Regierung bzw. des Militärs, etwa die Zusammenrottung und Ermordung von palästinensischen Zivilisten in den von ihnen besetzten Gebieten? Das Argument, dadurch gegen die Hamas vorzugehen, wirkt zynisch: Laut UNICEF sind seit Beginn des Krieges fast zwei Millionen Menschen innerhalb von Gaza geflohen. Tausende Kinder wurden getötet, verletzt oder traumatisiert. Die humanitäre Lage ist laut dem Auswärtigen Amt «katastrophal». Kann man die Toten der einen Seite betrauern und gleichzeitig bei zahllosen Vergeltungsschlägen auf der anderen Seite die Augen verschliessen? Wer jemandem Leid zugefügt hat, darf nicht einfach wegschauen, wenn die vergangenen Opfer sich heute verbrecherisch gegenüber anderen verhalten, bloss weil sich das schlechte Gewissen gegenüber den heutigen Tätern meldet. Das Erleiden eines Verbrechens legitimiert nicht, dasselbe anderen anzutun.
Wann ist die rote Linie überschritten? Ist das Vorpreschen der israelischen Armee in fremdes Staatsgebiet tatsächlich noch «Selbstverteidigung», wie das etwa der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius findet? Oder ist es eher die opportune Umdeutung eines Angriffs, mit der sich alle möglichen illegalen Besetzungen rechtfertigen lassen? Es spricht vieles dagegen, dass die deutsche Regierung weiterhin kritik-und bedingungslos das Tun der israelischen Regierung unterstützen sollte. Was spricht dafür?
Mit besten Grüssen,
Armin Stalder
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