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Die emotionale Hungersnot der Kinder

Den Kindern und Jugendlichen in den westlichen Ländern geht es immer schlechter. In den USA haben bereits 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine Diagnose, was ihre mentale Gesundheit betrifft. Immer mehr Fachleute warnen, dass wir uns in einer «Mental Health»-Pandemie befinden und rufen Hilfsprogramme für betroffene Kinder und Teenager ins Leben.

Schon 2020 wurden zum Beispiel in Deutschland jährlich mehr als 44 Milliarden Euro für «Reparaturversuche» ausgegeben. Leider scheinen diese Anstrengungen die Explosion der Zahlen nicht zu stoppen, geschweige denn zu reduzieren.

Das Zitat von Frederick Douglass, einem entflohenen Sklaven und Menschenrechtler, «It is easier to build strong children than to repair broken men» («Es ist leichter, starke Kinder zu erziehen, als gebrochene Erwachsene zu reparieren»), klingt logisch und nachvollziehbar. Das «Reparieren» scheint nicht zu wirken. Was also braucht es, damit Kinder wieder mental gesund gross werden können?

Eine Studie aus Tennessee, bei der 5000 Menschen im Alter von Mitte 20 bis Anfang 30 befragt wurden, zeigte, dass, wer sich als Kind von den Eltern nicht geliebt fühlte, im Erwachsenenalter eher an einer Depression erkrankt.

Wer sich oft nicht geliebt gefühlt hatte, hatte ein dreimal höheres Risiko für eine spätere Depression. Wie hat sich die Kindheit verändert, dass sich so viele Menschen nicht mehr geliebt fühlen?

Ich sehe da zwei Aspekte. Einmal werden immer mehr Kinder unter drei Jahren in Kindertagesstätten betreut. Lediglich der Anteil der unter Einjährigen bleibt auf niedrigem Niveau. Ein einjähriges Kind, das fünf Tage die Woche den grössten Teil seiner Wachzeit in einer ausserfamiliären Betreuung verbringt, ist kaum in der Lage, eine sichere Bindung aufzubauen.

Aber nicht nur die immer früher einsetzende ausserfamiliäre Betreuung stellt einen Belastungsfaktor für die emotionale Entwicklung des Kindes dar. Mütter, die in ihrer eigenen Kindheit keine ausreichende emotionale Versorgung erhalten haben, haben Schwierigkeiten, ihre Kinder bei der in den frühen Jahren notwendigen Gefühlsregulation zu unterstützen. Die eigene Kindheit hat also grossen Einfluss auf das Elterndasein. Und natürlich hat selbst die Kindheit der Grosseltern Einfluss auf die Kindheit der Enkelkinder.

Die ersten 18 Monate entscheiden, ob das Kind im späteren Leben Beziehungsfähigkeit erlangt und seine Affekte angemessen regulieren kann. Kinder, die sich von ihren Eltern nicht geliebt fühlen, suchen die Schuld oft bei sich und verbiegen sich, um die Liebe der Eltern zu gewinnen. Und tragischerweise verbiegen wir uns unser Leben lang.

Alles, was wir in den ersten Lebensjahren erfahren oder vermissen, wird Bestandteil unseres Lebensplanes. Alle Babys haben ein angeborenes Verlangen nach Nähe, Wärme und Geborgenheit. Der Hunger nach Aufmerksamkeit ist gross. Nur wenn sie es schaffen, die Aufmerksamkeit ihrer Bezugsperson(en) zu erreichen, erhalten sie die für sie lebensnotwendigen Streicheleinheiten. Damit wird das ersehnte und dringend benötigte Gefühl von Nähe, Wärme und Geborgenheit erfüllt.

Es entscheidet sich in den ersten Wochen, Monaten und Jahren, wie ein Mensch im späteren Leben handeln und reagieren wird, etwa um beruflich oder privat Aufmerksamkeit zu erregen und Anerkennung zu bekommen.

Bedauerlicherweise gilt das auch umgekehrt: Wenn einem kleinen Kind nur dann Beachtung geschenkt wird, wenn es ein von den Eltern unerwünschtes Verhalten zeigt, wie zum Beispiel Aufmerksamkeit in Form von Schelte und Bestrafung, wird das Kind dieses Verhalten immer wieder zeigen. Negative Aufmerksamkeit ist immer noch besser als keine Aufmerksamkeit.

Das Kind beginnt schon früh zu verinnerlichen, welche Werte in der Familie geschätzt und gelebt werden. Es lernt, mit welcher «Rolle» es am besten in diesem Wertesystem der jeweiligen Familie zurechtkommt. So schreibt das Kind sein eigenes persönliches «Rollenbuch». Der Grund ist einfach: Würde es sich nicht in das vorgegebene Wertesystem der Familie einpassen, erhielte es weniger positive Aufmerksamkeit. Beides – Liebe und Aufmerksamkeit – sind die emotionalen «Grundnahrungsmittel» für alle Babys und Kleinkinder. Darum setzen Kinder alles daran, diesem familiären Wertesystem zu entsprechen.

Eng damit verbunden ist die Angst, die Zuneigung zu verlieren, wenn wir uns anders verhalten. Diese Angst vor dem Verlust der Zuwendung bleibt und macht es selbst dem Erwachsenen kaum möglich, von seinem erlernten Verhalten abzuweichen. Als Erwachsene glauben wir tief im Inneren immer noch, wenn wir anders handeln würden als wir es gelernt haben, dann würden wir die Liebe unserer Eltern verlieren, und das wäre ein grosses Unglück für uns. Wir sind sogar bereit, die Wirklichkeit umzudeuten, um uns immer wieder zu bestätigen, dass unsere Eltern Recht hatten und die Welt, so wie wir sie erlebt und erklärt bekommen haben, auch so ist.

Würden wir die Realitäten anerkennen, dann hätten unsere Eltern ja Unrecht mit ihren Erklärungen gehabt, und das möchten wir nun wirklich nicht in Betracht ziehen.

Eine Mutter hatte zum Beispiel selbst viel Ablehnung und emotionale Kälte in ihrer eigenen Kindheit erlebt. Dennoch ist sie als Mutter äusserst liebevoll, geduldig und einfühlsam mit ihren vier kleinen Kindern. Von aussen gesehen würde das eigentlich den zuvor beschriebenen Mechanismen widersprechen. Angesprochen auf den Widerspruch erzählt sie, dass sie als Schulkind eine Freundin mit einer sehr liebevollen Mutter hatte, bei der sie oft zu Besuch war. Sie fühlte sich dort gesehen und gemocht und entschied sich damals dafür, wenn sie mal Kinder haben sollte, so eine Mutter zu werden, wie die, die ihre Freundin hatte. Sie hatte eine Chance bekommen, die sie nutzte und beschloss, einen anderen Weg einzuschlagen.

Kinder, die Zurückweisung erlebt haben oder die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Signale nicht erkannt, nicht entsprechend oder sogar falsch beantwortet wurden, entwickeln keine sichere Bindung. Sie konnten nicht zu der Überzeugung gelangen, dass ihnen Anspruch auf Liebe und Unterstützung zusteht, und vergraben ihre Wünsche tief in sich. Eine schädliche zwischenmenschliche Umgebung, zum Beispiel unzuverlässige oder wechselnde Reaktionen auf die Signale des Babys oder Vernachlässigung und traumatische Erlebnisse, verhindern eine sichere Bindung.

Der Bindungsstil, den wir als Baby entwickeln, bleibt uns ein Leben lang erhalten. Er bestimmt, wie wir uns fühlen, ob das Glas halb voll oder halb leer ist, ob wir uns «was trauen» oder ob wir schnell aufgeben. Unsere Gesellschaft sollte also dringend darauf fokussieren, die emotionale Hungersnot der Kleinsten zu beenden, um mental gesunde Kinder zu begleiten, die wiederum in der nächsten Generation Liebe und sichere Bindung weitergeben können.

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Maria Steuer ist Kinderärztin, Schulärztin, systemische Paar- und Familientherapeutin, Ahnentherapeutin, Chefredakteurin eines Magazins, Mutter von drei erwachsenen Kindern und zwei Enkelkindern und Autorin des Buchs «Der Schlüssel liegt in Deiner Kindheit» (2022, 72 Seiten).
mariasteuer.de

Sie arbeitet derzeit an einem Dokumentarfilm, mit dem sie die zentrale Rolle der gemachten Erfahrungen in der Kindheit auf die emotionale Entwicklung mehr Menschen zugänglich machen will und freut sich über Interessenten, die das Projekt in irgendeiner Form unterstützen wollen. maria.steuer@gmail.com


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