Das atomare Paradox
Die Kernspaltung ermöglichte das schlimmste menschgemachte Massaker aller Zeiten. Sie könnte auch die Rettung der Menschheit bedeuten. Notizen einer Reise nach Nagasaki und Fukushima.
Shunichi Yamashita empfängt mich in seinem Haus, auf den Hügeln über Nagasaki. Ground Zero, das Epizentrum der Atombombe, die am 9. August 1945 gegen 70´000 Menschen getötet und die Stadt in ein Trümmerfeld verwandelt hatte, liegt zu unseren Füssen. Als Yamashita 1952 hier geboren wurde, waren noch nicht alle Trümmer weggeräumt. In den Ruinen der Urakami-Kathedrale, keine 500 Meter vom Ground Zero entfernt, wurde er getauft.
Auch die Universitätsklinik von Nagasaki, wo Professor Yamashita einst seine Studien begann und wo er heute lehrt, lag in der Todeszone. Sein Leben lang forschte er um die Folgen der Strahlung. Als leitendes Mitglied der Tschernobyl-Kommission verbrachte er viele Jahre in der Ukraine. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima koordinierte er den Strahlenschutz vor Ort.
Mit am Tisch sitzt Haru, die 88-jährige Mutter von Yamashita. Sie war knapp drei Kilometer von Ground Zero entfernt, als die Bombe explodierte. Die Strahlung zeitigte auch für sie verheerende Folgen, allerdings anders, als man es sich vorstellt. Hibakusha nannten sie die Überlebenden der Bombe. Im Sommer 2017, anlässlich meines Besuches, lebten in Japan noch 164´621 von ihnen.
Jahrelang wurde Haru wie eine Aussätzige behandelt. Es hiess, die Verstrahlten würden Krüppel gebären, vorzeitig an Krebs sterben, ja sie könnten gar ansteckend sein. Nichts davon ist wahr. Die Diskriminierung basierte auf einem irren Hoax. Die statistische Lebenserwartung der Hibakusha liegt sogar über jener der japanischen Gesamtbevölkerung.
Professor Shunichi Yamashita vermutet, dass eine bevorzugte medizinische Betreuung und grosszügige Renten für Hibakusha einen positiven Effekt auf ihre Lebenserwartung gezeitigt haben. Beweisen lässt sich das nicht. Was sich jedoch statistisch belegen lässt: Weder in der Gegend von Nagasaki noch von Hiroshima noch von Tschernobyl liess sich gemäss Langzeitstudien je eine Häufung von Krebsfällen nachweisen. Anderslautende Zahlen beruhen ausschliesslich auf Hochrechnungen, die auf längst überholten Modellen basieren.
Aber all die Bilder von Fehlgeburten und schrecklichen Missbildungen bei Neugeborenen? Auch das ist gemäss Yamashita ein Hoax: «Es gab diese Missbildungen vor den atomaren Katastrophen, es gab sie nachher. Eine Zunahme lässt sich statistisch nicht erkennen.»
Und die auf Jahrhunderte verseuchten und verstrahlten Landschaften? Yamashita lächelte etwas mitleidig: «Ground Zero war nie gesperrt, weder in Nagasaki noch in Hiroshima, der Wiederaufbau begann nach wenigen Wochen. In den ersten vier Monaten war es sicher nicht empfehlenswert, sich dort aufzuhalten. Vor allem sollte man in der ersten Zeit nichts essen, was dort gewachsen ist. In der Not haben die Menschen trotzdem sofort wieder gepflanzt. Aus pragmatischer Sicht war das nicht einmal falsch. Fehlende Hygiene und die Unterernährung waren eine grössere Bedrohung als Strahlung und Kontamination.»
Halb betäubt fahre ich gegen Abend zurück zu meinem Hotel, vorbei an Ground Zero. In der Schule hatte ich gelernt, dass eine nukleare Katastrophe ganze Landstriche auf Jahrzehnte unbewohnbar macht. Ich ging nicht irgendwo in Afrika zur Schule, sondern in der Schweiz, die auf ihre Volksschulen so stolz ist. Und jetzt das – alles Lug und Trug?
Die Hölle ist lukrativ
Professor Shunichi Yamashita ist kein Verschwörungstheoretiker. Er ist angesehen und integriert in der internationalen Forschungsgemeinschaft. Seine wissenschaftlichen Erhebungen in Nagasaki, Tschernobyl und Fukushima wurden nie bestritten. Das erschütternde Fazit der Tschernobyl-Kommission – dass sich höchstens 56 Todesfälle unmittelbar der Strahlung zuordnen lassen, dass unnötige Evakuation und unbegründete Ängste mehr Leid angerichtet haben, als die nukleare Verseuchung – steht auf solidem Fundament.
Das Problem sind Grenzwerte, die nicht wissenschaftlicher, sondern politischer Natur sind. Als diese in den 1950er-Jahren festgelegt wurden, wusste man so gut wie nichts über die Langzeitwirkung von Strahlung und Kontamination. Man ging von einer linearen Zunahme der Gefahr bei erhöhter Strahlung aus. Heute weiss man, dass die Gefahr exponentiell steigt. Das heisst: Lange passiert nichts, doch dann wird es sehr schnell sehr gefährlich.
Es ist ähnlich wie beim Covid-19-Hype: Wenn die Panik ihre Dynamik entwickelt hat, ist sie kaum noch zu bremsen. Wer radikale Massnahmen fordert, kann nie verlieren. Stellt sich die Warnung später als falsch heraus, schreit kein Hahn mehr danach. Mit Angst lassen sich die Menschen manipulieren, lenken und unterwerfen. Die Hölle ist die lukrativste Erfindung aller Zeiten.
Nicht hinter jeder Fake-News steckt böser Wille. Oft ist es eine Mischung von Vorurteilen, Ignoranz, Konformitätsdruck und Bequemlichkeit. Ich versuchte daher stets, mir vor Ort ein Bild zu machen. Als es 2011 in Japan zur Kernschmelze kam, reiste ich nach Fukushima. Zwei Jahre später gelang es mir, als einem der weltweit ganz wenigen Journalisten, einen Tag in den Reaktor-Ruinen zu verbringen.
Vorweg: Während des Fluges von Zürich nach Tokyo empfing ich eine höhere Strahlendosis als während der acht Stunden im havarierten AKW. Wer täglich fliegt, setzt sich einer Strahlung aus, die in einem AKW niemals zulässig wäre. Vielflieger haben trotzdem nichts zu befürchten.
Die Kernschmelze in den drei uralten Reaktoren von Fukushima Dai Ichi richtete eine gewaltige Sauerei an, doch sie hat keinen Menschen ernsthaft verletzt, geschweige denn getötet. Die Anwohner gingen rational mit der Gefahr um. Die Angst stieg mit der Distanz, am grössten war sie am anderen Ende der Welt, in Deutschland. Die 18´000 realen Toten, die in den Fluten des Tsunamis ertranken, gingen schnell vergessen. Und wie Professor Dr. Sucharit Bhakdi während der Corona-Krise, wurde damals auch Professor Sunichi Yamashita vom medialen Mob schnell zum Schweigen gebracht.
Alle moderneren Kernreaktoren Japans haben sowohl eines der heftigsten Erdbeben aller Zeiten wie den Tsunami problemlos überstanden. Wenn man eine Lehre aus Fukushima ziehen wollte, würde man die alten Meiler durch neue ersetzen. Doch die Schweiz tat das Gegenteil: Sie verbot neue AKW – und weil es ohne nicht geht, lässt man die alten auf Ewigkeit weiterlaufen. Angst macht Idioten.
2000 Windräder gegen einen Kubikmeter Uran
Die Kombination von Wasser und Atom ist meines Erachtens die umweltfreundlichste, sicherste und günstigste Alternative. Allein die Schweizer Erfahrung zeigt dies. Der Stromverbrauch wird von der Nachfrage bestimmt. Wir müssen immer so viel produzieren, wie verlangt wird, sonst bricht das Netz zusammen. Und dafür ist der Schweizer Strommix – AKW für die Grundversorgung, hoch flexible Wasserkraft für die Regulierung – geradezu genial. Mit Wind und Sonne ist das schlicht unmöglich. Es liegt nicht an der fehlenden Technologie, sondern an den Gesetzen der Natur. Die Speicherung grosser Strommengen funktioniert bestenfalls auf dem Papier und verschlingt Unmengen an Ressourcen.
Der grosse Vorteil der Kernenergie ist der gemessen am Ertrag geringe Verschleiss an Ressourcen. Längst erprobte Brutreaktoren der Generation IV hinterlassen keine lange strahlenden Abfälle mehr. Sie können sogar Atombomben und Atomabfälle in Energie verwandeln.
Um Leibstadt ein Jahr lang zu betreiben, braucht es gut einen Kubikmeter Uran. Der Treibstoff für zehn Jahre hätte in einer Garage Platz. Wollte man die Produktion von Leibstadt durch Windräder ersetzen, müsste man 2000 Türme mit 95 Meter Nabenhöhe in die Landschaft stellen. Damit wären gerade mal 10 Prozent des Schweizer Strombedarfs gedeckt, allerdings nicht bei Flaute. Der Ertrag aller Schweizer Wälder würde im Übrigen nicht ausreichen, um Leibstadt durch ein Holzkraftwerk zu ersetzen. Ich habe das alles in meinem Buch «Der Fluch des Guten» nachgerechnet.
Was stimmt: Die Geschichte der Kernenergie ist untrennbar mit jener der Atombombe verknüpft. Präsident Harry S. Truman rechtfertigte die 150´000 getöteten Zivilisten von Hiroshima und Nagasaki mit über einer Million Kriegstoten, welche die Kapitulation Japans voraussichtlich verhinderte. Ich weiss nicht, ob solche Rechnungen zulässig sind, sie übersteigen meinen Horizont. Aber es ist eine Tatsache, dass es seither zwischen den Atommächten zu keinem offenen Krieg mehr gekommen ist. Weil keiner einen solchen Krieg gewinnen kann.
Es gibt kein Zurück
Es liegt mir fern, die Atombombe als Segen zu bezeichnen. Gemäss Murphy´s Law trifft jedes Unglück, das theoretisch möglich ist, irgendwann mal ein. Doch wir haben diese Wahl gar nicht. Ist die Erfindung einmal gemacht, lässt sie sich nicht mehr rückgängig machen, wie Friedrich Dürrenmatt in seinem genialen Drama «Die Physiker» plastisch darlegte. Selbst wenn man alle Pläne zu vernichten versuchte, eine Kopie bliebe immer erhalten. Und wehe, wenn sie in die falschen Hände gelangt. Wir sind zum Leben mit der Bombe verdammt.
Präsident Dwight D. Eisenhower unterbreitete der Weltgemeinschaft 1958 einen Deal: Die USA würden ihr bis dahin streng geheimgehaltenes Wissen um die Kernspaltung für all jene Länder freigeben, die sich verpflichteten, die Technologie nur für friedliche Zwecke zu nutzen. Daraus entstand eine Art Weltbank, welche die Herstellung, die Lagerung und den Handel von spaltbarem Uran-235 und Plutonium überwacht. Die Stoffe sind gleichsam der Schlüssel zur Bombe wie zur Kernenergie.
Bislang hat das System funktioniert. Eine Alternative ist nicht in Sicht. Und wenn alle Demokratien dieser Welt auf Kernenergie verzichten würden, die Diktatoren würden erst recht darauf setzen. Allein China hat seinen AKW-Park seit Fukushima vervierfacht, eine weitere Verdoppelung bis 2030 ist geplant. Die Chinesen rechnen heute dank Serienproduktion mit vier Jahren Bauzeit für ein AKW, das viermal weniger kostet als das analoge europäische 1000-Megawatt-Modell.
Unter Zivilisationsmüden mag Energiesparen angesagt sein. In Entwicklungsländern, wo die meisten Menschen leben, ist das schlicht kein Thema. Mit gutem Grund. Ernährung, Bildung, Gesundheit, Wasserversorgung, Industrialisierung, Forschung, Produktion – ohne eine günstige und sichere Stromversorgung läuft rein gar nichts. Und falls wir ernsthaft von den fossilen Brennstoffen wegkommen wollen, brauchen wir in Zukunft nicht weniger, sondern viel mehr Strom. Ich sehe nicht, wie wir das ohne Kernenergie schaffen wollen.♦
von Alex Baur
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