Hierarchiefrei ist besser
Es gibt immer mehr Unternehmen ohne Chefs, die äusserst erfolgreich wirtschaften. Anstelle einzelner Topmanager, die Firmen beherrschen, sind die neuen Heldinnen und Helden alle Mitarbeitenden. Sie managen ihren Verantwortungsbereich selbstständig und führen gemeinsam – wenn sie das wollen.
Burnout, mangelhaftes Engagement der Mitarbeitenden, Bevormundung und Resignation, Dienst nach Vorschrift, blockierte Kreativität, Überlastung der Vorgesetzen: Das hierarchische Modell hat viele Nachteile. Warum halten wir daran fest? Weil wir seit Kindsbeinen auf Hierarchie konditioniert sind! In der Familie bestimmen die Eltern, in der Schule die Lehrpersonen, im Militär die Offiziere, im Betrieb die Vorgesetzten.
Im staatspolitischen Bereich stören wir uns zu Recht an autokratischen Herrschern und an Systemen, die die Freiheit der Bürger beschneiden. In den Unternehmen der Wirtschaft hingegen finden wir es völlig normal, dass machtvolle Geschäftsleitende über machtlose Angestellte herrschen.
Das neue Paradigma
Freiheit ist die einzig artgerechte Menschenhaltung im Betrieb. In meinem Buch «Hierarchiefrei ist besser! Mit FLOW-Kultur zum Management auf Augenhöhe» beschreibe ich 14 Unternehmen, die dieses neue Paradigma vorleben – und den Weg dorthin. FLOW bedeutet Freiheit, Leichtigkeit, Offenheit, Wirksamkeit – vier psychologische Grundbedürfnisse. Statt Menschenführung und Organigramm-Hierarchie gibt es Effizienz und Mitgestaltung sowie eine disziplinierte Führung von Projekten und Abläufen. Und eine hohe Verbindlichkeit, denn je agiler eine Organisation ist, desto mehr Orientierung, Systemsicherheit und Übernahme von Verantwortung braucht es.
Die Transaktionsanalyse illustriert es sehr treffend: In den konventionellen Unternehmenskulturen des alten Paradigmas haben wir das hierarchische Gefälle mit Vorgesetzten im Eltern-Ich und Angestellten im Kind-Ich. Anders im neuen Paradigma mit Augenhöhe und S elbstorganisation: Da begegnen sich Partner im Erwachsenen-Ich, in Beziehungen der Gleichwertigkeit.
In der Schweiz haben wir mit der direkten Demokratie zwar ein einzigartiges hierarchiefreies Modell, aber es wird erst von sehr wenigen Unternehmen kopiert. Dabei muss nur der demokratische Entscheidungsprozess mit Mehrheit und Minderheit durch das Prozedere des «Konsents» ersetzt werden. Das bedeutet, dass alle Beteiligten mit der vorgeschlagenen Lösung leben können – falls nicht, kann ein Einwand gemacht werden, welcher die Umsetzung blockiert. Das Mindset mit dem Menschenbild mündiger Bürgerinnen und Bürger kann eins zu eins übernommen werden.
Der Verzicht auf eine Machthierarchie bedeutet übrigens nicht den Verzicht auf Führung. Wenn die Patrouille Suisse in der Luft ist, hat ein Pilot den Lead. Ohne diese klare Führung droht der Absturz. Aber im Gegensatz zu früher, wo der Ranghöchste permanent den Lead hatte, rotiert heute die Leaderfunktion. Es braucht im Einsatz einen Lead, aber keine Hierarchie.
Ist von Hierarchiefreiheit die Rede, kommt sofort die Frage: «Wer soll denn entscheiden, wenn es keine Chefs gibt?» Die Antwort: Alle Mitarbeitenden haben klare Rollen mit den dazugehörenden Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen, und sie entscheiden selbstständig über rollenspezifische Geschäftsvorfälle. Alle sind Helden in ihrem Bereich! Wenn die Entscheidung über die eigene Rolle hinausgeht und andere Rollen tangiert, wird sie gemeinsam mit den anderen Betroffenen entschieden. Und wenn die Entscheidung von übergeordneter Bedeutung ist, trifft das Team die Entscheidung.
Und wer sagt, wo’s langgeht? Der Leitstern ist eine von allen geteilte Vision, und nach dieser richten sich alle Entscheidungen aus. Diese Vision wird gemeinsam mit allen Mitarbeitenden entwickelt, periodisch überprüft und wenn nötig angepasst.
Für eine nachhaltige Transformation braucht es zwei Elemente: ein neues Mindset (Denkhaltung) und neue Methoden (System, Prozesse). Das Verhalten der Menschen in der Firma ist das Resultat von Mindset und Methode, also der Unternehmenskultur.
Aspekte des neuen Mindsets:
• Freiheit, Gleichwertigkeit, Geschwisterlichkeit.
• Menschenbild: Menschen haben unbeschränktes Potenzial und können sich folglich selbst organisieren und Verantwortung übernehmen. Sie brauchen einfach Vertrauen, Freiraum und eine kompetente Begleitung.
• Die Unternehmensführung ist ein teamzentriertes Gemeinschaftswerk.
• Ängste, Überforderung und Unsicherheiten gehören dazu und kommen offen auf den Tisch (z.B. neue Fehlerkultur).
Neue Methoden:
• Möglichst weitgehende Transparenz.
• Beteiligung der Mitarbeitenden (an Entscheidungen, Erfolg, Eigentum).
• Kreisorganisation und rotierende Führungsrollen.
• Entscheidungsprozedere «Konsent».
• Nicht nur Meetings zum Tagesgeschäft (Bäume fällen), sondern auch für Rollen- und Prozessklärungen, Kommunikation, Teambildung (Axt schleifen).
• Weitgehende Entscheidkompetenz bei Rollenträgern = weniger Meetings.
• Konsequente Beseitigung von Demotivationsfaktoren (Energieräubern) am Arbeitsplatz.
In meinem Buch führe ich sämtliche FLOW-Praktiken im Detail aus. Hier schon mal eine kleine Checkliste, wie Sie anfangen können, Hierarchien abzubauen:
1. Informationen beschaffen und Thema in der Geschäftsleitung diskutieren: z.B. Buch «Hierarchiefrei ist besser!» lesen – gerne stelle ich Ihnen die Kerninhalte persönlich vor.
2. Diskussion und Klärung im Führungsteam: Welche Form ist für unsere Firma geeignet? Wie wollen wir vorgehen?
3. Sobald sich das Führungsteam für die Transformation entschieden hat, ganze Belegschaft mit auf die Reise nehmen.
4. Pilotprojekt «Selbstorganisation» starten, auswerten und übertragen auf andere Bereiche.
5. Tipp: Führungskräfte, die die Firma verlassen, nicht ersetzen.
6. Professionelle Begleitung beiziehen – niemand operiert sich seinen Meniskus selbst …
7. Genügend Ressourcen einplanen (Zeit und Budget).
Fazit: Die Entwicklung einer Unternehmenskultur des Vertrauens und der Augenhöhe ist rundum lohnenswert. Aufgrund unserer Konditionierungen und alten Denkmuster ist sie aber ein anspruchsvoller Weg, der die volle Zuwendung und Unterstützung der Schlüsselpersonen benötigt. Es braucht ein System, das auf «Command and Control» verzichtet und die Betroffenen zu Beteiligten macht. Hierarchiefrei ist besser!
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Peter Wyss ist Begründer der FLOW-Kultur® und begleitet seit 27 Jahren Unternehmen auf dem Weg zu einer freiheitlicheren, menschlicheren Kultur mit involvierten und engagierten Mitarbeitenden. Seine Kernkompetenzen: Kulturentwicklung, Teambildung und Coaching auf Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch.
Alle Infos und Leseproben zu «Hierarchiefrei ist besser!
Mit FLOW-Kultur zum Management auf Augenhöhe» (2020, 290 Seiten) finden Sie auf flow-kultur.ch.
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