Entwicklung und ich

Vor einem märchenhaften Haus, in einem verwunschenen Garten, umgeben von rätselhaften Wesen, hob ich einen Stein, unter dem ich zu meinem Entsetzen eine sich windende Schlange fand. Vor Schreck liess ich den Stein fallen und rannte zu meiner Mutter, so schnell mich meine kurzen Beine trugen.

Die Schlange – wahrscheinlich war es nur eine Blindschleiche – hat jenen sonnigen Tag in Vevey wohl kaum überlebt. Dass ihr unangenehmes Ableben meine früheste Kindheitserinnerung geprägt hat und damit einen Wendepunkt in meinem Bewusstsein darstellt, wäre für das unglückliche Reptil wohl ein schwacher Trost.

Alles was ist, war und jemals sein wird

Vor einigen Monaten habe ich an dieser Stelle über den Sinn des Lebens gegrübelt. Heute bin ich fast sicher, ihn in der Entwicklung des Bewusstseins gefunden zu haben. Finden Sie das übertrieben? Dröseln wir mal auf: Es dürfte weithin unbestritten sein, dass wir Menschen ein Bewusstsein haben, mit dem wir uns selbst und die Welt erfahren. Ebenfalls sind Sie wahrscheinlich einverstanden mit der Aussage, dass sich dieses Bewusstsein verändert. Als Säugling können wir zwischen uns und der Welt noch nicht unterscheiden, wir glauben – so wird es von Forschern beschrieben –, dass wir eins sind mit unseren Müttern. Die Trennung zwischen uns und der uns umgebenden Welt erfahren wir erst später, als Kleinkind. In jenen prägenden Jahren also, in denen erste Erinnerungen hängen bleiben. Da aber nimmt unsere Entwicklung erst richtig Fahrt auf, wenn wir die Trennung vom innen und aussen lernen, und dieses Lernen ist wahrscheinlich selbst dann noch nicht abgeschlossen, wenn wir erkennen, dass die erlernte Trennung eine Illusion ist. Denn wie innen, so aussen. Weil alles eins ist. Wir sind ewiges Bewusstsein, das, um sich selbst zu erkennen, auf diesem Planeten eine menschliche Erfahrung macht. Ist Ihnen das zu abgefahren? Verrückter scheint mir die Reduktion des Menschen auf Materie, auf Chemie, die Idee des Menschen als Maschine aus Fleisch, die Verneinung unserer Existenz als geistige Wesen. Ich kenne kaum jemand, der so denkt. Oder fühlt. Sogar die Naturwissenschaftler betreten mit der Erforschung der rätselhaften Quantenwelt wieder zunehmend geistiges Territorium. Es bewahrheitet sich, dass der erste Schluck aus dem Becher der Naturwissenschaft atheistisch macht, aber auf dem Grund des Bechers Gott wartet.

Halsabschneider und andere Abkürzungen

Während wir uns als Individuen entwickeln, sind wir zugleich ein winzig kleiner Teil eines kollektiven Prozesses. Einige Jahre bevor sich in der Waadt ewige Dunkelheit über ein Reptil im Garten meiner Grossmutter senkte, veröffentlichten prominente DDR-Dissidenten den Berliner Appell «Frieden schaffen ohne Waffen». Fast 40 Jahre später stellt die zwangsgebührenfinanzierte Sendung «Sternstunde Philosophie» die Frage «Wie viele Waffen braucht es für den Frieden?». Das Beispiel zeigt: Auch das kollektive Bewusstsein unterliegt Veränderungen, die keineswegs linear verlaufen. Die Menschheit durchlebt immer wieder temporäre Rückschritte. Für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schnitten revolutionäre Franzosen im ausgehenden 18. Jahrhundert viele adelige Köpfe ab. Um das Erreichte gegen monarchistische Restaurationsbestrebungen und Gegenrevolutionäre zu verteidigen, mussten in den Jahren des terreurs noch viele Tausend weitere Hälse durchschnitten werden, bevor sich Napoleon als Kaiser von Gottes Gnaden an der Spitze der verirrten Republik installieren konnte und in der Folge Verheerung über ganz Europa brachte. Die Franzosen hatten einen riesigen Aufwand betrieben, um einen König durch einen Kaiser zu ersetzen.

Das kollektive menschliche Bewusstsein war damals nicht reif für Liberté, Égalité, Fraternité und ist es bis heute nicht. Ich glaube aber, dass wir auf dem Weg dahin sind. Oder präziser; auf einem Umweg dahin. ♦

von Michael Bubendorf


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