
Der Schatten des Dionysos
Im machtpolitischen Konflikt zwischen Russland und dem Westen widerspiegelt sich auch ein Kulturkampf. Die westliche Welt, die glaubt, sie sei die Hüterin der Aufklärung, hat ihre Bodenhaftung verloren. Sie manövriert sich im Ringen mit dem russischen Bären immer tiefer in einen Schlamassel.
Eines meiner liebsten Stücke russischer Literatur ist die Erzählung «Der eiserne Wille» von Nikolay Leskov. Leskov lebte im 19. Jahrhundert und wuchs in der Provinz auf. Er war kein Aristokrat, sondern ein Mann aus dem Volk und kannte das Leben auf dem Land sehr gut. In dieser Erzählung diskutieren ein paar Freunde über die Rückständigkeit Russlands und den daraus folgenden Minderwertigkeitskomplex, der viele Russen schon immer heimsuchte. Da steht ein Mann auf und sagt: Ihr macht euch vergebens Sorgen über den Fortschritt der Deutschen und unsere Rückständigkeit. Der deutsche Verstand ist wie eine scharfe Axt, und wir Russen sind Teig. Eine Axt kann den Teig nicht teilen. Je mehr man reinhaut, desto mehr verliert sich die Axt im Teig. Und dann erzählt er die Geschichte eines Deutschen mit «eisernem Willen», der nach Russland kam, um den Fortschritt zu bringen, aber schliesslich an der russischen Wirklichkeit scheiterte und elendiglich zugrunde ging.
Als der Westen vor drei Jahren begann, Russland mit Sanktionen zu überziehen, dachte ich mir: Jetzt wird es lustig, jetzt hauen sie die Axt tief in den Teig und können nicht mehr zurück! Und so kam es. Die westliche Politik führt immer tiefer in den Schlamassel, aber einen Weg zurück scheint es auch nicht mehr zu geben. Dass Russland anders ist, als man sich das im Westen vorstellt, mussten schon einige westliche Protagonisten, wie Napoleon und Hitler, schmerzlich erfahren. Aber was macht dieses Anderssein denn nun aus? Der Filmregisseur Andrej Kontschalowskij sagte in einem Interview vor Kurzem: Der Ukraine-Konflikt ist der Kampf der apollinischen gegen die dionysische Welt. Die Begriffe sind erklärungsbedürftig, aber sie führen meiner Meinung nach zu einer interessanten Perspektive auf die jüngsten Vorkommnisse.
Mass und Ordnung, Rausch und Chaos
Das antike Griechenland ist die Wiege der europäischen Kultur. Die Griechen hatten eine vielfältige Götterwelt, die wie ein Kaleidoskop die Innenwelt menschlicher Existenz abbildet. Zwei wichtige Figuren sind Apollon und Dionysos. Apollon ist der Repräsentant von Mass und Ordnung, Schönheit, Ernst und Würde. Er kann Heilung, aber auch Verderben bringen. Er ist Künder von Zeus‘ Willen und steht für Fortschritt. Dionysos ist der Gott des Rausches und der Ekstase. Er ist der Herr des dionysischen Festschwarms und verkörpert ungebändigt triebhaftes Verhalten. Er beinhaltet Chaos, Entgrenzung, aber auch Verbundenheit. Sie sind in vielem Antagonisten. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass beide Götter sowohl positive wie negative Seiten haben. Westeuropa wurde stark durch die römische Kultur geprägt, wo Apollo eine zentrale Stellung hatte. Russland ist der byzantinischen Kultur näher, die ihrerseits stark auf dionysischen Traditionen aufbaut.
Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Russen ja nicht von uns Westeuropäern. Aber wenn man ein bisschen genauer hinschaut, so sieht man diese kulturellen Unterschiede in vielen Bereichen. Dionysos wirkt im Untergrund und ist verbunden mit der Erde. Da Russland das grösste Land der Welt ist, passt diese Rolle perfekt.
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Hanspeter Rikli hat Agronomie an der ETH studiert und arbeitete zunächst als Landwirt. Nach der Zweitausbildung zum Übersetzer betreute er im Auftrag des Bundes Projekte in Russland und Kirgistan. Ab 2000 war er als Unternehmer in Russland tätig. Heute führt er einen Ackerbaubetrieb von 1000 Hektaren in der Nähe der Stadt Woronesch.
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