Kinderviews
Wie ich von der Schönwetter-Redaktorin beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF zur «Corona-Tante» mutierte. Statt Jodlerchörli fing ich an, Kinderstimmen zu Corona aufzuzeichnen.
Weshalb wurden in den letzten zwei Jahren die Schutzbedürftigsten unserer Gesellschaft mit unsinnigsten «Schutzmassnahmen» gegängelt? Wieso waren die vom Bundesrat eingesetzten Wissenschaftler alarmiert wegen der Fallzahlen und blendeten gleichzeitig die damit einhergehende Überlastung der Kinder- und Jugendpsychiatrien aus?
Diese Fragen haben mich als Mutter beschäftigt. Mit dem Herzen war ich immer bei den Kindern in den vergangenen zwei Jahren. Wie konnte es für Kinder gesund sein, wenn ihnen mit dem Tragen der Masken in der Schule oder beim Sport der Atem genommen wird? Und wie, um Himmels Willen, sollte ein Kind verstehen, dass es krank ist, obwohl es sich gesund fühlt? Wie sich solche Widersprüche auf das Körpergefühl von Jugendlichen auswirken und wie erdrückend sich die Belastung der von aussen auferlegten Verantwortung anfühlte, konnte ich nur erahnen.
Beim Austausch im Arbeitsumfeld stiess ich mit solchen Fragen auf Unverständnis. «Ach, die Kinder, die sind robust und die können ja jetzt auch mal ein bisschen Solidarität zeigen gegenüber den Alten und überhaupt. Wegen dem bitzeli Masken tragen …» Ich war sprachlos, dass Eltern so denken konnten. Fassungslos hinterliessen mich auch die «Covid-Angels», die in unserer Kantine mit Patrouillenweste dafür sorgten, dass wir Mitarbeiter die Abstände einhielten und die Maske wirklich nur zum Essen runternahmen. Mit meiner Meinung, die Massnahmen seien nicht nur für die Kleinsten unserer Gesellschaft in keinster Weise verhältnismässig, stand ich allein da – mit Abstand. Der gesunde Menschenverstand schien mir an einer Desinfektionsmittelvergiftung zu leiden.
Da ich mich auch mit der Berichterstattung rund um das C-Thema nicht solidarisieren konnte, merkte ich, dass ich mich von meinem Arbeitgeber distanzieren möchte. Kritisch und ausgewogen geht anders. Ich kündigte und konnte so gottseidank auch den Fittichen der «Covid-Angels» entfliehen. Mein Vertrauen in meinen Arbeitgeber war an Long Covid erkrankt und meine 25 Jahre währende Loyalität gegenüber dem Hause SRF fiel in sich zusammen.
Im Nachhinein stellte ich mir vor, wie grenzenlos die Loyalität der Kinder gegenüber ihren Betreuungs- und Erziehungsberechtigten ist. Um keinen Preis wollen Kinder das Wohlwollen der Erwachsenen riskieren und unternehmen alles, um zu gefallen. Selbst wenn sie intuitiv spüren, dass da etwas nicht stimmen kann, können sie nicht kündigen. Aber sie behalten ihre feinen Antennen.
Wie ist es den Kindern mit diesen Massnahmen ergangen? Was machen diese zwei Jahre Ausnahmezustand mit Kinderseelen?
Ein handgeschriebener Brief von einem Jungen im Internet, der sich wütend bei der Frau Lehrerin und den Politikern über die Massnahmen beklagt, inspirierte mich, auf die Suche nach Kinderstimmen zu gehen und sie in einem Buch zu dokumentieren.
Nach meinem ersten Aufruf in Eltern- und Lehrernetzwerken erhielt ich Rückmeldungen von besorgten Eltern, die dankbar waren, dass ihre Kinder zu Wort kommen durften.
Im Buch können die Kinder nach Möglichkeit und Bedürfnis mit einer Zeichnung oder einem Text ihre Erfahrungen und Gedanken zum Ausdruck bringen. Mit einigen Kindern habe ich Interviews geführt, oder eben Kinderviews. Am Wort Interview gefällt mir besonders die Ableitung aus dem Französischen «entrevue», was frei übersetzt «Begegnung» heisst. Ziel dieser Begegnungen war, die Einzigartigkeit eines jeden Kindes zu zeigen. Ich gehe ohne Fragekatalog zu den Treffen und versuche, jedes Kind dort abzuholen, wo es momentan steht. Ohne Storyboard, nur zwei, drei Fragen im Gepäck, die ich allen Kindern stelle. Zum Beispiel: «Was hat dich am meisten gestresst?» oder «Wie würdest du später diese Zeit einmal deinen Kindern beschreiben?».
Als Leserinnen und Leser sind wir unangenehm berührt, wenn wir eine vorgefasste Meinung des Interviewers spüren. Wir wollen kein betreutes Denken und uns unsere Gedanken zum Leseerlebnis selbst machen. Meine Meinung zum Thema wollte ich partout zu Hause lassen. So viel vorweg: Es ist mir nicht immer gelungen. Manchmal war im Tonfall meiner Fragen eben doch meine Haltung zu hören.
Ich habe mich dazu mit meinem Partner un-terhalten, der mich bei diesem Projekt mit seiner Erfahrung als Körpersprachvermittler und Regisseur für Kindertheater unterstützt. Beim Transkript der Gespräche ist uns aufgefallen, dass sich die Kinder durch solche Fehler in ihrer Antwort nicht beirren liessen. Kindermund tut Wahrheit kund, da scheint der Volksmund recht zu haben. In diesem Kontext eine Aussage aus dem Interview mit Janina, 13 Jahre, zum Thema, wie sie zu ihrer Meinung rund um das Thema Corona gekommen ist: «Ich bilde mir meine Meinung so wie ich Dinge wahrgenommen habe und immer noch wahrnehme.»
Es liegt in der Natur der Sache, dass es einfacher ist, Stimmen von Kindern aus kritischen Elternhäusern zu finden als umgekehrt. Mir ist es aber ein Anliegen, mit dem Buch nicht noch mehr zur Spaltung in der Gesellschaft beizutragen. Im Gegenteil. Alle Kinder sollen eine Plattform erhalten, ob coronakonform oder -nonkonform in der Haltung. Die Beiträge können witzige, nachdenkliche oder traurige Untertöne haben. Spurlos ist diese Zeit an keinem Kind vorbeigegangen.
Besorgte Kinderärzte berichten über massive Zunahmen von Angstdepressionen, Essstörungen und Bewegungsmangel als direkte Auswirkungen dieser Krise. Laut dem Neurobiologen Gerhard Hüther hinterlässt ein Jahr im Hirn eines 7-Jährigen so viele Spuren wie zehn Jahre im Hirn eines 70-Jährigen. Andrin ist acht Jahre alt und fasst seine Erfahrungen zusammen: «Das behalte ich immer im Chopf. Diese dumme Zeit.» Oder die 6-Jährige Sofie kurz und bündig: «Corona ist ein Seich.»
Hoffen wir, dass den Kindern in Zukunft dieser Seich, also vor allem die Massnahmen, erspart bleiben und sie wieder Kinder sein dürfen. Nicht missen möchte ich die vielen schönen Begegnungen mit den Eltern, die mir ihre Kinder anvertraut haben, und natürlich diejenigen mit den Kindern, wenn sie mir ihre Sicht der Dinge erzählten. Eben ihre eigenen Kinderviews.
Für Jugendliche in der Pubertät braucht es vielleicht mehr Überwindung, um persönliche Gedanken preiszugeben. So habe ich jedenfalls den Zuruf an die Mutter interpretiert, als sich ein 15-Jähriger nach der Begrüssung ausser Hörweite wähnte und rief: «Mami, die Corona-Tante ist da!». Eine knappe halbe Stunde später überraschte mich eben dieser Jugendliche mit der Wortwahl beim Erzählen seiner Erinnerungen. Da fielen Sätze wie: «Man war so ein bisschen wie versiegelt» oder «Das Leben ist so leblos geworden». Treffender könnten auch Erwachsene den Irrsinn der letzten zwei Jahre nicht beschreiben. ♦
von Esther Wintsch
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