Auf Freiheitsmission
Habe ich mir das selbst ausgesucht, mich bewusst dafür entschieden? Oder war es Schicksal und ich habe einfach den für mich vorgesehenen Pfad beschritten? Wie es dazu kam, dass ich mich mit Haut und Haaren für die Freiheit einsetze und diese Lebensaufgabe sogar zu meinem Beruf gemacht habe, weiss ich selbst nicht so genau.
Es war vermutlich eine Kombination aus beidem: Meinen (genetischen, astrologischen, erziehungsbeeinflussten …) Vorprägungen, die dafür verantwortlich waren, dass ich den Freiheitswillen mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Und meiner Lebenserfahrungen als mündiges Wesen sowie die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Liberalismus als Reaktion auf die in der Schule versuchte Indoktrination mit offensichtlich fehlgeleitetem etatistischen Gedankengut, das ich schon damals als unvereinbar mit der Lebenswirklichkeit empfand.
Keine Ahnung also, ob ich meine Mission selbst gewählt habe oder ob sie mir «gegeben» wurde. Im Grunde spielt das auch gar keine Rolle. Denn ich fühle mich in meinem Tun allein meinen inneren Werten verpflichtet, meinem inneren Kompass und Gewissen. Diese inneren Sensoren signalisieren mir, was gut und was böse, welches Handeln richtig und welches falsch ist. Ich fühle mich daher nicht fremdbestimmt. Ich vertraue darauf: Wenn mir jemand oder etwas ein falsches Wertesystem eingepflanzt hätte, das destruktiv und zerstörerisch ist, so wären mein Gewissen und meine Vernunft in der Lage, diesen Irrtum aufzudecken. Dann könnte ich meine Überzeugungen hinterfragen und adjustieren. Darauf vertraue ich, weil ich nach reiflicher Auseinandersetzung mit gewissen Themen auch schon meine Ansichten geändert habe. Zum Beispiel war ich einmal der Meinung, dass die Ausgabe von Geld eine Staatsaufgabe sei und habe sogar viele Monate an einer entsprechenden Volksinitiative mitgearbeitet, bis ich realisierte, dass dies ein Holzweg ist und Geld besser dem freien Markt überlassen werden sollte.
Die Erfahrung, dass ich meine Ansichten auch revidieren kann, spräche eher dafür, dass mir mein Freiheitsimpuls nicht «gegeben» wurde, sondern ich ihn erlernt habe. Dies macht mir Hoffnung: Konnte ich ihn erlernen, so ist es zumindest nicht ausgeschlossen, dass andere ihn auch erlernen können. Es mag starke Mechanismen geben, die jemanden dazu bringen, an seinen fehlgeleiteten Glaubenssätzen festzuhalten. Etwa, wie sehr die eigene Identität von dieser Meinung abhängt oder wie stark man in seiner Kindheit traumatisiert wurde. Es ist zumindest nicht ausgeschlossen. Mein eigenes Beispiel und viele weitere Beispiele in meinem Umfeld zeigen, dass es nicht unmöglich ist, seine Mitmenschen durch entsprechende Überzeugungsarbeit von falschen Denkmustern, Ideologien und Glaubenssätzen abzubringen. Die Prinzipien für ein friedliches, freiheitliches und prosperierendes Zusammenleben aller Menschen können entdeckt und verinnerlicht werden.
Warum es sich zu kämpfen lohnt
Das Schöne am Liberalismus, für den ich mich mit Herzblut einsetze, ist ja, dass er die Menschen nicht dazu zwingt, ihre Ideale aufzugeben, die sie zuvor als Sozialist oder als Konservativer gepflegt haben. Der Liberalismus lässt Raum für alle möglichen Modelle des Zusammenlebens. Einzige Voraussetzung: Man lässt den anderen in Ruhe und geht nicht mithilfe von Gewalt (auch nicht der Staatsgewalt) gegen Andersdenkende oder Andersartige vor. Wenn also beispielsweise Sozialisten in einer WG oder einem Dorf zusammenleben wollen, wo alle, die freiwillig mitmachen, alles mit allen teilen, so ist das im Liberalismus erlaubt. Dasselbe gilt für Konservative, die in ihrer Religionsgemeinschaft und in traditionellen Familienstrukturen leben wollen. Oder die libertäre Community, in welcher Eigentumsrechte zu Hundert Prozent geschützt sind und jeder selbst entscheiden darf, was mit den Früchten seiner Arbeit geschehen soll. Im Liberalismus ist Platz für alle da.
Die einzige Voraussetzung ist, dass auf politischer Grossebene alles offenbleibt bis auf den einklagbaren Schutz von Eigentum, Leib und Leben, damit sich in dezentral-föderalistischer Weise alles auf tieferen Ebenen regeln lässt. Das ist der einzig nötige Konsens, um Frieden, Selbstbestimmung und Zufriedenheit für alle zu ermöglichen. Es braucht dafür keinen «neuen Menschen», keine Zwangsumerziehung, keine international abgestimmte «Agenda 2030» und auch keinen «Great Reset», der uns top down aufgestülpt wird. Alles, was wir brauchen, ist ein bisschen Toleranz für die Tatsache, dass es andere Menschen und Communities gibt, die eine andere Lebensweise pflegen. All dies im Bewusstsein darum, dass diese Toleranz auch die eigene Community vor Angriffen anderer schützt, denen unsere Lebensweise nicht zusagt. Wie es Ludwig von Mises so schön gesagt hat: «Ein freier Mensch muss es ertragen können, dass seine Mitmenschen anders handeln und anders leben, als er es für richtig hält, und muss sich abgewöhnen, sobald ihm etwas nicht gefällt, nach der Polizei zu rufen.» Insofern habe ich Hoffnung, dass der Liberalismus als grossartige Vision vielen Menschen vermittelbar und Frieden auf dieser Welt möglich ist.
Wann ist meine Mission erfüllt?
Wäre meine Aufgabe erledigt, wenn wir uns auf diesen Konsens einigen könnten und der Liberalismus eingeführt wäre? Die Geschichte zeigt uns leider, dass die Aufgabe, für die Freiheit zu kämpfen, nie beendet ist – egal wie weit man es zwischenzeitlich gebracht haben mag. Die Fackel der Freiheit muss stets an die nächste Generation weitergegeben werden, sonst erlischt sie.
Das hat auch mit unseren Reflexen zu tun, die wir wohl noch von unseren Vorfahren geerbt haben. Die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte lebten wir nicht in einer anonymen Grossgesellschaft mit globaler Arbeitsteilung wie heute, sondern in überschaubaren Stammesgesellschaften. Der Kollektivismus, und nicht der Individualismus, war in über 99 Prozent der Menschheitsgeschichte unsere dominante Organisationsform. Das hat sich vermutlich tief in unser genetisches Material eingeprägt. Es gab und gibt immer wieder Rückfälle in dieses Stammesdenken, in barbarisches Herdenverhalten. Der Rassismus des Nationalsozialismus und der Klassismus in kommunistischen Ländern sind zwei tragische Beispiele dafür. Die Aufklärung über unsere Wurzeln, das Bewusstmachen unserer intuitiven Kollektivismusreflexe und das Aufzeigen funktionierender Mechanismen einer freien, wohlhabenden und friedlichen Gesellschaft werden vermutlich die bleibenden Aufgaben der liberalen Aufklärungsbewegung sein.
Ist es Zeit, das Handtuch zu werfen?
Freiheitsaktivisten haben es derzeit nicht leicht. Die cancel culture macht ihnen das Leben schwer. Angriffe gegen Leib, Leben und Eigentum von Andersdenkenden, Skeptikern und Hinterfragern mehren sich. Tröstlich ist, dass es nicht das erste Mal in der Geschichte ist, dass Freiheitsfreunde unterdrückt werden und es auch unsere liberalen Vorfahren irgendwie geschafft haben, das Pendel nach kollektivistischen Exzessen zu stoppen und es zumindest phasenweise wieder in die andere Richtung sausen zu lassen. Wieso sollte uns das nicht auch gelingen?
Es braucht jeden Einzelnen von uns, der jeder in seinem spezifischen Umfeld den nötigen Einsatz leistet. Wir dürfen nicht verzagen, nur weil wir aktuell keine Mehrheiten haben. Nassim Taleb zeigt in seinem Buch «Skin in the Game» auf, dass es keine Mehrheiten braucht, um den Lauf der Dinge zu verändern. Eine aktive und entschlossene Minderheit reicht dazu vollkommen aus. Wir haben also allen Grund, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. ♦
von Olivier Kessler
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Olivier Kessler ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich.
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