Piraten

Die unbeugsamen Sozialreformer des 17. Jahrhunderts

Die Geschichte ist geprägt von Menschen, die aus der Norm ausbrechen, von Rebellen und Renegaten, die sich gegen die Eliten stellen und dadurch die Gesellschaft voranbringen. Auch die Piraten waren vielmehr Sozialreformer als kriminelle Mörder und Räuber. Viele ihrer Errungenschaften bestehen bis heute fort.

Stellen Sie sich vor, Ihre Freiheiten werden durch die Allmacht des Staates erstickt. Ihre Hoffnungen auf sozialen Aufstieg sind zunichtegemacht. Sie leben in ständiger Angst vor staatlichen Repressalien. So sah das Leben der meisten Menschen im 17. Jahrhundert aus. Einige jedoch, die mutig genug waren, die Ketten der Gesellschaft zu sprengen, fanden sich als Gesetzlose wieder. Von den Herrschenden gehasst, waren sie Vorreiter einer revolutionären Bewegung – der Aufklärung. Sie waren echte social justice warriors. Die Rede ist von den Piraten des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts.

Ein freies Leben auf hoher See

Die Piraten praktizierten die ersten Formen der Demokratie. Im Gegensatz zur autoritären Struktur der königlichen Marine wählten die Piraten ihre Kapitäne und Quartiermeister selbst. Die Macht war gleichmässig verteilt, und jeder Pirat hatte das Recht, seine Meinung zu äussern. «Jeder Mann hat eine Stimme in den Angelegenheiten von Wichtigkeit», schrieb der Pirat Captain Bartholomew Roberts. In Madagaskar, wo sich damals viele Piraten niedergelassen hatten, wurde die demokratische Herrschaftsform, die sich auf See bewährt hatte, ebenfalls praktiziert. Und zwar mit den gleichen Rechten für alle Männer und Frauen.

Gleichberechtigung und Lohngleichheit waren den Piraten wichtig. Trotz ihres raubeinigen Images waren sie den sozialen Normen ihrer Zeit weit voraus. Jeder Pirat erhielt, unabhängig von Rang oder Herkunft, einen fairen Anteil an der Beute. Sogar eine Art Unfallversicherung gab es an Bord, die die Männer im Falle von Verletzungen absicherte. In Captain Morgans Leitbild war die Höhe der Entschädigungen festgelegt: «für den Verlust eines rechten Armes sechshundert spanische Dollar; für den Verlust eines linken Armes fünfhundert spanische Dollar; für ein rechtes Bein fünfhundert; für das linke Bein vierhundert; für ein Auge hundert spanische Dollar; für einen Finger der Hand die gleiche Belohnung wie für das Auge».

Piratinnen, Inklusion und mehr

Die Piraterie öffnete auch Frauen Türen. Piratinnen wie Anne Bonny und Mary Read kämpften Seite an Seite mit Männern und waren genauso gefürchtet. Sie waren Protofeministinnen, die nicht nur forderten, sondern den Tatbeweis erbrachten.

In der Piraterie spielte es keine Rolle, wer sie waren, welche Hautfarbe, Religion sie hatten oder woher sie kamen. Arme, Reiche, Behinderte, alle wurden an Bord aufgenommen. Es war eine Gemeinschaft, die Inklusion und Vielfalt förderte. Ja, sogar gleichgeschlechtliche Ehen waren bei Piraten akzeptiert, in Form der matelotage, einem Bund zwischen zwei Männern, der eine weitreichende gesellschaftliche und finanzielle Partnerschaft darstellte.

«Strangulation durch Regulation»

Die Piraten setzten sich gegen die «Strangulation durch Regulation», gegen sinnlose Regeln und Gesetze zur Wehr. Dadurch wurden die Piraten zu einer Bedrohung für die Herrschenden. Nicht wegen ihrer kriminellen Aktivitäten, sondern wegen der sozialen und politischen Ideale, die sie repräsentierten. Tatsächlich arbeiteten die Regierungen selbst oft mit Freibeutern – nichts anderes als lizenzierte und steuerzahlende Seeräuber – zusammen, um ihre politischen und militärischen Ziele zu erreichen. Am meisten fürchteten sie die Piraten jedoch, weil sie Demokratie und Gleichheit symbolisierten.

Die Piraten stellten das starre hierarchische Herrschaftssystem infrage und verkörperten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, lange bevor diese Werte mit der Aufklärung und der Französischen Revolution populär wurden. Die Autoritäten befürchteten, dass ihre Praktiken und Ideale das Verlangen des «Volkes» nach ähnlichen Rechten und Freiheiten wecken könnte. Die Piraten waren eine konkrete, lebendige und bedrohliche Alternative zur «moralischen Ordnung». In den Worten des Piraten Samuel Bellamy: «Sie schelten uns Schurken und Banditen; doch ich bin ein freier Prinz und habe so viel Autorität, Kriege zu führen, wie jener, der einhundert Segel und eine Armee auf dem Lande hat.»

Die Befürchtungen der Herrschenden waren nicht unbegründet. Denn die sozialen und politischen Veränderungen, für die die Piraten standen, beeinf lussten die Ideen der amerikanischen und französischen Revolution und trugen massgeblich zur Entstehung moderner Demokratien bei.

Meister des Brandings und des Storytellings

Die Piraten waren nicht nur auf dem Wasser, sondern auch in der Kunst des Brandings und des Storytellings versiert. Die berüchtigte Piratenflagge, bekannt als «Jolly Roger», war mehr als nur ein gruseliges Symbol – sie war ein effektives Marketinginstrument, das noch heute allen bekannt ist. Mit dem Bild des weissen Totenschädels auf schwarzem Grund sendeten die Piraten eine klare Botschaft an ihre potenziellen Opfer: «Gebt auf oder stellt euch den Konsequenzen.»

Diese Strategie war erfolgreich. Die schiere Präsenz der Piratenflagge reichte oft aus, um ein Handelsschiff zur Kapitulation zu bewegen, ohne dass ein einziger Schuss abgegeben wurde. In diesem Sinne waren die Piraten weniger gewalttätig, als gemeinhin angenommen wird. Sie bevorzugten es, Kämpfe zu vermeiden und stattdessen auf die Macht ihrer Reputation zu setzen. Das entspricht der Lehre des chinesischen Strategen Sun Tzu, der sagte: «Das höchste Ziel des Krieges ist es, den Feind ohne zu kämpfen zu besiegen.»

Im Vergleich zu den brutalen Bedingungen und drakonischen Strafen bei der königlichen Marine oder der Handelsmarine, war das Leben unter dem «Jolly Roger» bedeutend angenehmer. Die Piraten praktizierten ihre eigenen Formen der Disziplin und Gerechtigkeit, die weitaus fairer und humaner waren als das, was in der restlichen Gesellschaft praktiziert wurde.

Was wir heute von den Piraten lernen können

Die Piraten waren sicher nicht perfekt, und aus heutiger Sicht auch gewalttätig. Aber sie waren auch Revolutionäre, die für Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit kämpften. Viele der Errungenschaften der Piraten sind für uns heute selbstverständlich, doch sie waren ihrer Zeit weit voraus.

Was können wir heute von den Piraten lernen? Vielleicht ist es ihre Bereitschaft, Normen infrage zu stellen und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Vielleicht ist es ihre Fähigkeit, eine inklusive Gemeinschaft aufzubauen, die auf Gleichberechtigung und Gerechtigkeit basiert.

Die Piraten hatten den Mut, das unfaire System zu hinterfragen, sich von dessen Ketten zu befreien und ihre eigene Gesellschaft, basierend auf Gleichheit und Demokratie, zu erschaffen. Und sie taten dies trotz der Gefahr, als Verbrecher zu gelten und wenn immer möglich durch den Staat publikumswirksam an den Galgen gebracht zu werden.

Die Lektion, die wir aus der Geschichte der Piraten lernen können, ist, dass Veränderung oft von den Mutigen und den Ausgegrenzten ausgeht. Es sind diejenigen, die sich trauen, die Regeln zu brechen und gegen den Status quo zu rebellieren, die echte Veränderungen bewirken können.

In einer Welt, die zwar permanent von Gleichheit, Inklusion und Toleranz spricht, sich aber zunehmend spaltet, in der die Toleranz gegenüber Andersdenkenden immer mehr abnimmt und die Grundlagen für eine freie demokratische Gesellschaft zunehmend geschwächt werden, könnten wir von etwas mehr Piratengeist in uns allen profitieren. Wir sollten uns trauen, Regeln infrage zu stellen, die keinen Sinn ergeben. Wie sollten uns auch trauen, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen und für eine inklusive und gerechte Gesellschaft einzustehen. Vielleicht sollten wir ein bisschen mehr Pirat sein. Denn in den Worten von Pirat Edward Teach, besser bekannt als Blackbeard: «In einer Welt voller Thronen und Kronen ist Freiheit unser grösstes Gut.» ♦

von Mathias Müller

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Mathias Müller ist Berufsoffizier in der Schweizer Armee. Er hat Arbeits- und Organisationspsychologie und Medienwissenschaften studiert und sitzt seit 2014 für die SVP im Grossen Rat des Kantons Bern. Sein neustes Buch «Piraten. Die Kunst, Grenzen zu überwinden» (110 S., 15 Fr.) kann bei mathias.mueller@bluewin.ch bestellt werden.


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