Das Wesentliche besitzen

Immer mehr Quadratmeter, dafür billige Materialien. Höhere Zäune, dafür weniger Leben und eine monatliche Kreditrückzahlung, die uns die Luft zum Atmen nimmt. Geht es auch anders? Bestimmt! Aber dafür müssen wir die Art, wie wir bauen, hinterfragen und dürfen mutig neue Wege gehen!

Kaum etwas prägt unser Leben und unseren Alltag so sehr wie unser Zuhause. Man riecht und spürt es, wenn man die Türe öffnet: Hier kann ich mich fallen lassen, hier bin ich willkommen. Aber was braucht es dafür? Und wieso werden moderne Wohnhäuser immer mehr zu lieblosen Schuhschachteln aus dem Katalog, die sich mit nutzlosen Dingen füllen?

Seit über zehn Jahren beschäftige ich mich mit zukunftsfähigen, nachhaltigen Wohnlösungen. Warum? Weil die Art und Weise, wie wir bauen und wohnen, hochpolitisch ist – es prägt unsere Gesellschaft wie kaum etwas anderes: Die Entscheidung, wie wir wohnen, ist eine der grössten wirtschaftlichen Entscheidungen unseres Lebens. Die Baubranche ist für 40 Prozent des weltweiten Ressourcenverbrauchs verantwortlich. Unser Wohnumfeld bestimmt unser soziales Miteinander – treffen wir uns im Alltag oder verschwindet jeder hinter einem hohen Zaun?

Wollen wir wirklich in Wegwerfhäusern wohnen?

Seit der Generation unserer Grosseltern hat sich das Bauen stark gewandelt. Statt mit wenigen Materialien grosse Gebäude zu bauen, die mehrere Generationen überdauern, errichten wir heute komplexe Wegwerfgebäude mit Baustoffen aus der Industriechemie, die niemand mehr versteht oder reparieren kann. Ich wollte neue Lösungen finden, die ein Leben unterstützen, das von Selbstwirksamkeit, Lebendigkeit, guten Verbindungen mit der Natur und unseren Mitmenschen geprägt ist, nicht von Abhängigkeiten und Konsumwahnsinn. Ich wollte das Wohnen, wie wir es kennen, komplett neu denken – oder vielleicht einfach wieder zu den Wurzeln zurückführen, die wir nur vergessen haben.

Vor über zehn Jahren gründete ich mein Unternehmen WOHNWAGON aus dem Wunsch, mit ganz konkreten Wohnprojekten zu zeigen, was möglich ist. Mein Team ist heute auf 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewachsen und hat über 170 Projekte in Österreich, Deutschland und der Schweiz realisiert. Nach vielen wertvollen Erfahrungen ist als Essenz eine tiefe Überzeugung geblieben: Dass die Zeit reif ist für eine neue Form des Wohnens. Es ist Zeit, aus utopischen Pionierideen gelebte Realität zu machen.

Wie wäre es … wenn wir unser Zuhause auf das Wesentliche reduzieren?

Der durchschnittliche Wohnraum pro Person hat sich in den letzten Jahrzehnten verdreifacht. Im selben Atemzug sind gemeinschaftliche Einrichtungen verschwunden: die Waschküche, das Backhaus, aber auch die Wirtshäuser und kleine Pensionen im Ort. Das hat uns zwar unabhängiger gemacht, aber auch einsamer. Was passiert, wenn wir uns trauen, unseren Wohnraum auf das Wesentliche zu reduzieren? Frei nach Seneca – «Nie ist zu wenig was genügt» – könnten wir Wohnraum gestalten, der liebevoll durchdacht ist, bei dem jeder Zentimeter unseren Bedürfnissen entspricht und Sinn und Seele hat. Und den Rest: einfach weglassen. Nicht bauen. Nicht finanzieren. Nicht heizen. Nicht reparieren müssen. – Das hört sich nicht nach Einschränkung, sondern nach einer grossen Befreiung an!

Wenn wir uns ehrlich fragen, welche Plätze in der eigenen Wohnung oder im Haus wirklich lebendig sind, wo wir uns wohl fühlen, erholen und die schönsten Momente erleben, dann sind es in Wahrheit einige wenige Lieblingsplätze, die uns wichtig sind. Die Aufgabe der Architektur muss es sein, genau solche Lieblingsplätze zu schaffen. Mehr Wohnqualität auf weniger Fläche statt möglichst billigen Quadratmeterpreisen. Das könnte die Devise sein!

… wenn wir das Wohnen nachbarschaftlich denken?

Wer selbst weniger Raum zur Verfügung hat, streckt automatisch wieder seine Fühler aus. Vielleicht ein Schritt, der uns gesellschaftlich auch gut tun würde? Die Sauna, die Werkstatt, das Gästezimmer und der Platz zum Feiern – würde es nicht Spass machen, solche Flächen mit anderen zu teilen und gemeinsam zu nutzen? Gemeinsam werden Dinge leistbar, die man alleine nie stemmen könnte: Ein ordentlicher Schwimmteich statt eines kleinen Plastikpools. Wie wär´s?

Gemeinsam könnten wir auch die Problematik von überteuerten Grundstücken und fehlenden Bauplätzen lösen. Gerade in ländlichen Regionen steht unglaublich viel Baufläche leer. Dazu kommen Grundstücke, die als Wertanlage dienen und ungenutzt sind. Und wer kennt sie nicht, die grossen Gebäude, in dem nur noch eine einsame, ältere Dame wohnt? Wollen wir mutig sein und für diese Flächen neue Konzepte denken?

Mit flexiblen, modularen Wohngebäuden ist es möglich, aus einem Einfamilienhausgrundstück eine lebendige Nachbarschaft zu machen: Der Grundstücksbesitzer verpachtet die freie Fläche, dort können modulare Vollholzgebäude auf Schraubfundamenten errichtet werden. Der Verpächter bekommt eine nette Nachbarschaft, eine laufende Einnahme und vielleicht Hilfe bei der Gartenarbeit, der Pächter kann ein leistbares und nachhaltiges Wohnprojekt realisieren. Hört sich nach Utopie an? Stimmt nicht! Genau solche Projekte sind bereits gelebte Realität. Ein Beispiel: Susanne wohnte alleine in ihrem Einfamilienhaus in der Nähe von Wien. Ihr Sohn hatte gerade eine Familie gegründet und war auf der Suche nach leistbarem Wohnraum. Die beiden fanden eine ungewöhnliche Lösung: Susanne übergab das Haus ihrem Sohn, der den Raum gut nutzen konnte. Sie zog in eines unserer Vollholz-Tiny-Houses, das im Garten platziert wurde. Garten und Wirtschaftsräume werden gemeinsam genutzt, jeder hat seinen Rückzugsbereich und dennoch entsteht ein Miteinander auf dem Grundstück: Zeit für die Enkel, Mithilfe bei Besorgungen, man sieht sich regelmässig und unterstützt sich gegenseitig.

Susanne ist kein Einzelfall: Michael und Sibylle setzten ihr Projekt bei Freunden um und geniessen das Miteinander in der Nachbarschaft, Margot steht bei einem Bauernhof und unterstützt bei der Ernte, Christina, Urs und Nici teilen sich gemeinsam ein Grundstück, das bisher als Wertanlage leer stand und wohnen jeweils in einem kleinen Vollholz-Modul.

… wenn wir mit der Natur bauen, statt gegen sie?

Über viele Jahrhunderte war es üblich, unsere Häuser mit den Materialien zu bauen, die uns unsere natürliche Umgebung schenkt. Erst in den letzten Jahrzehnten errichten wir Betonbunker mit Plastikfenstern und Styropordämmung. Fühlt sich nicht gut an. Wie wäre es, wenn deine Sinne jubilieren, wenn du über deine Wand streichst? Wir bauen seit vielen Jahren mit Vollholz, Schafwolle und Lehmputz und ich kann aus eigener Erfahrung berichten, wie gut es tut, von natürlichen Materialien umgeben zu sein.

Wer weniger Fläche braucht, kann wählerischer sein und sich für grossartige Naturmaterialien entscheiden, die zu unserem Wohlbefinden beitragen: Holz beruhigt den Herzschlag und stärkt die Regenerationsfähigkeit, Schafwolle bindet Schadstoffe und reguliert die Luftfeuchtigkeit. Und dabei altern gute Materialien auch würdevoll und werden mit den Jahren fast noch schöner. Schon meine Oma wusste: «Ich hab lieber weniger, dafür was gscheits.»

Unsere Leben sind heute meist geprägt von einem «Zu viel»: Zu viel Informationen und Eindrücke, zu viel finanzieller Druck, keine Zeit, zu viel Zeug. Wer sich bewusst für die Reduktion entscheidet, tut sich selbst etwas Gutes, schafft sich mehr Freiraum für Schönes und Luft zum Atmen. Das gibt Kraft und Mut, den eigenen Weg zu gehen. Ich bin überzeugt: Das ist politisch hoch subversiv. Daher freue ich mich, dass ich auch in den nächsten Ausgaben Wissen, Erfahrungen und Inspiration zu diesem Thema weitergeben darf. Was brauchst du für ein gutes Leben? Machen wir uns gemeinsam auf den Weg! ♦

von Theresa Mai

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Theresa Mai ist Geschäftsführerin und Mitgründerin von WOHNWAGON. Mit ihrem Unternehmen realisiert sie modulare, reduzierte Wohnprojekte mit autarker Versorgung. wohnwagon.at

Veranstaltungstipps:

Webinar «Wie wir wohnen wollen»:
Kostenloses Webinar mit konkreten Lösungen für nachhaltiges, zukunftsfähiges Wohnen von WOHNWAGON & kleinHAUS
13. März 2024, 19.30, online

Workshop «Finde deine Wohn-Vision»:
Gemeinsam erarbeiten wir konkrete Wohnvisionen und geben dir die Wissens-Bausteine für die Realisierung.
15. Juni 2024, ganztägig, Olten

Alle Infos unter graswurzle.ch


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