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Die Versuchung der Utopie

Die Sehnsucht nach dem Paradies auf Erden ist so alt wie die Menschheit. Aber sie war schon immer ein Irrweg.

In meiner Kindheit war die Welt für mich in Ordnung. Das ist sie für jedes Kind, das in einigermassen normalen Verhältnissen aufwachsen darf. Und auch wenn die Welt aus erwachsener Sicht nicht in Ordnung war, auch wenn der Vater zuwenig verdiente oder die Mutter vor lauter Traurigkeit immer weinte – dann gehörte auch dies zur kindlichen Ordnung. Die leere Haushaltskasse und die Tränen der Mutter, das war einfach so.

Dann wird das Kind älter, sein Bewusst-sein entwickelt sich, es beginnt zu vergleichen mit anderen Kindern und lernt: Meine Kindheit könnte auch anders sein. Der Tisch könnte reicher gedeckt sein. Die Mutter könnte auch lachen. Die Ordnung, in der das Kind lebt, bekommt Risse. Es wünscht sich eine Familie, in der die Eltern keine Probleme haben. Es wünscht sich, dass alles gut ist. Aber das geht nicht, denn es hat sich entschieden, auf diesen Planeten zu kommen, gerade weil die Welt ein Problemplanet ist. Probleme sind Erfahrungen, und wir möchten Erfahrungen machen. Wir möchten lernen. Deshalb ist das Kind hier.

Dann wird aus dem Kind ein junger Mensch auf seinem dornigen Weg zum Erwachsensein. Der junge Mensch entdeckt die Welt ausserhalb seiner kindlichen Ordnung. Er beginnt zu erkennen, dass er nicht nur das Kind seiner Eltern ist, sondern ein Erdenbürger. Und er sieht nicht mehr nur die Probleme in seiner unmittelbaren Welt, er sieht die Probleme der grossen Welt. Und so wie er sich eine Kindheit ohne Probleme gewünscht hat, so wünscht sich der junge Mensch nun, dass die grosse Welt keine Probleme mehr hat.

Wenn es Krieg gibt, wünscht er sich Frieden. Er wünscht sich Gerechtigkeit, wo es Ungerechtigkeit gibt. Er wünscht sich Toleranz anstelle von Intoleranz. Und er wünscht sich Liebe statt Hass.

Manche Frohnaturen unter den jungen Menschen machen sich nicht so viele Gedanken über die Schlechtigkeit auf der Welt. Sie lassen sich davon nicht beeindrucken. Sie wollen jung sein und das Leben geniessen. Sie haben recht. Sie sollen geniessen dürfen. Denn es werden Tage kommen, an denen das Leben sie prüfen wird, ob sie erkennen, dass ihr Glück eine Gnade ist. Ob sie die Kraft, die das Leben ihnen geschenkt hat, zu teilen bereit sind.

Andere junge Menschen können sich an ihrem Jungsein nicht freuen. Sie leiden darunter, dass ihre Hoffnungen für eine bessere Welt nicht in Erfüllung gehen. Sie empfinden so grossen Weltschmerz, dass sie …

von Nicolas Lindt

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Nicolas Lindt ist Schriftsteller und gestaltet den täglichen Podcast «5 Minuten». Im Juli erscheint sein neues Buch «Heiraten im Namen der Liebe»

nicolaslindt.ch


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