
Neutralitätszertrümmerer unter sich
Eindrücke von der «Impulstagung zur Neutralitätspolitik» in Bern
Im Mai 2024 ist die Eidgenössische Volksinitiative zur «Wahrung der schweizerischen Neutralität» (Neutralitätsinitiative) zustande gekommen. Der Bundesrat hat in seiner Botschaft vom 27. November 2024 geschrieben, dass der Initiativtext zur Anpassung der Verfassung eine zu starre Vorstellung von Neutralität bedeute und den zukünftigen politischen Handlungsspielraum zu stark eingrenze. Die Neutralitätsinitiative sei daher nicht im Interesse der Schweiz. Entsprechend sieht die Landesregierung keinen Handlungsbedarf und empfiehlt dem Parlament, die Initiative ohne Gegenvorschlag abzulehnen.
Die Initiative bringt einen zentralen aussenpolitischen Grundsatz wieder vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit und gibt Anlass zu Diskussionen. Passend zu diesem Thema veranstaltete der Schweizerische Friedensrat am 18. Mai im Historischen Museum Bern die «Impulstagung zur Neutralitätspolitik». In ihrer Eröffnungsrede nannte Maria Ackermann vom Schweizerischen Friedensrat die Neutralitätsinitiative als Motivationsgrund für die Veranstaltung.
Teil der Impulstagung war eine Podiumsdiskussion am Vormittag. Teilnehmer waren der Diplomat Dr. Günther Bächler, Prof. Dr. Laurent Götschel (Universität Basel), Prof. Dr. Odile Ammann (Universität Lausanne) und SP-Ständerätin Franziska Roth, die unter anderem sowohl in der Sicherheits- als auch Aussenpolitischen Kommission sitzt. Moderiert wurde die Diskussion von NZZ-Journalist Dr. Ivo Mijnssen.
Gesinnungskreuzzug
Odile Ammann wies darauf hin, Neutralitätspolitik und Neutralitätsrecht zu trennen. Wichtig für die Zukunft sei es, eine klare Definition des Begriffs «Neutralität» zu entwickeln. Es brauche eine Vision, die «klar, verständlich und kohärent» sei. In der jetzigen Verfassungsinterpretation sei die Neutralität ein Mittel zum Zweck, die Initiative deute sie jedoch zum Selbstzweck um.
Die Veranstalter hatten im Vorfeld angekündigt, dass die «Impulstagung» einen «vielstimmigen, jedoch nicht kontradiktorischen Anlass» darstelle. Im Verlauf des Podiums kristallisierte sich heraus, was sie wohl darunter verstehen: Auch wenn sich die Teilnehmer in Einzelheiten nicht immer einig waren, war in den Grundzügen der Tenor klar: Die Neutralität braucht es nicht mehr. Die sogenannte Diskussion entpuppte sich als einseitiger Gesinnungskreuzzug gegen die Neutralität, mehr oder weniger rhetorisch elegant dargebracht im üblichen politisch-akademischen Duktus, um die prinzipielle Eintracht der Neutralitätszertrümmerer zu verschleiern. Mit einem Teilnehmer aus dem Initiativkomitee wäre die Diskussion ihrem Namen wahrscheinlich eher gerecht geworden.
Auch bei den übrigen Tagungsteilnehmern («Speakers») musste eine weitgehende Gleichförmigkeit konstatiert werden. Gleich mehrere unterhalten Verbindungen zur Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace, zum Friedensrat oder sind durch persönliche Seilschaften verbandelt, etwa Roth und ihr parlamentarischer Mitarbeiter Dr. Peter Hug.
Zweifel an der offenen Diskussionsbereitschaft nährte der Friedensrat schon im Vorfeld der Veranstaltung. So wurden mehrere Anmeldungen von Medienvertretern entweder ablehnend oder gar nicht beantwortet. Unter anderem wurde dies mit dem «privaten» Charakter der Tagung begründet, obwohl sich jeder über die öffentliche Website kostenlos anmelden konnte.
«Mythos zertrümmern»
Immer wieder wurde der Ukrainekrieg als Beispiel dafür herangezogen, weshalb die Neutralität ein Relikt aus der Geschichte und nicht mehr zeitgemäss sei. Laut Bächler gehört sie ins Mausoleum. Jedoch gilt festzuhalten: Die Neutralität ist zweifellos ein identitätsstiftendes Merkmal für die Schweiz, womit sie auch im Ausland in Verbindung gebracht wird. Der einzige Grund, die Neutralität abzuschaffen, schien der Lieblingspopanz aus dem Kalten Krieg zu sein, die beschworene rote Gefahr aus Russland. Man hätte den Raum auch nutzen können, den Neutralitätsbegriff neu zu denken, anstatt ihn abschaffen zu wollen.
Den über 90-prozentigen Rückhalt der Neutralität in der Bevölkerung bezeichnete der Diplomat Bächler ironischerweise als «sowjetischen Zustand». Doch es war kaum die Rede davon, inwiefern die Bevölkerung als Souverän den Neutralitätsbegriff versteht oder wie sie in die Neugestaltung einbezogen werden könnte. Daran käme man jedoch nicht vorbei, weil eine Verfassungsänderung auf jeden Fall eine Volksabstimmung mit sich bringen würde.
Es ist klar, wer davon profitieren würde: In erster Linie die Rüstungsindustrie und die Kriegsphantasten, denen die Neutralität ein Dorn im Auge ist, ebenso jene, die die politische Annäherung Richtung EU und NATO unterstützen. Zu Letzteren gehört etwa der neue Bundesrat Martin Pfister als Vorsteher des Verteidigungsdepartements. Zwar bestand Einigkeit unter den Podiumsteilnehmern, Diplomatie zu nutzen und die humanitäre Tradition der Schweiz weiterzuführen. Allerdings stellt sich dann die Frage, weshalb ein Konzept der Neutralität überholt sein soll. Eine aktiv interpretierte Rolle der Neutralität könnte der schweizerischen Aussenpolitik ein glaubwürdiges Profil verleihen.
Aber in den Augen der Neutralitätsabschaffer ist sie bloss ein Mythos, politisch besetzt und bewirtschaftet von der SVP. Diesen gelte es, so sagte es Roth, zu «zertrümmern». Diese Formulierung benutzt auch die Operation Libero. Der paradoxen Charakteristik dieses «friedenspolitischen» Anlasses ist es schliesslich geschuldet, dass auch deren Co-Präsidentin Sanija Ameti auftreten kann, die bekanntlich auf ein Marienbild mit Jesuskind geschossen hat und vor einigen Wochen propagierte, die Schweiz solle sich der «Koalition der Willigen» im Ukrainekrieg anschliessen – freilich ohne jegliche Konkretisierung, wie das aussehen soll.
Hat dir der Artikel gefallen? Dann bestelle jetzt ein Abo in unserem Shop!
Deine Meinung ist uns wichtig: Teile dich mit und diskutiere im Chat mit unseren Lesern.